Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

-- an Gelehrsamkeit und Kenntnissen fehlte es mir nicht, ich
durchkroch alle alte und neue Winkel der medizinischen Litteratur,
aber ich fand in dieser schwankenden Wissenschaft lauter Unwis-
senschaft, alles bloße Wahrscheinlichkeit und Vermuthung; jetzt
war ich der Arzneikunde herzlich müde; aber womit sollte ich
mich nun nähren, und -- womit meine Schulden be-
zahlen
? -- da mußte ich mich der Vorsehung auf Gnade und
Ungnade ergeben; und das that ich auch auf immer und ewig,
und von Herzen, und diese Uebergabe ist nicht allein nicht auf-
gehoben, sondern sie ist bis dahin immer stärker und immer un-
bedingter geworden.

Religiöse Bücher? -- Ja, die schrieb ich, aber ohne merkli-
chen Erfolg: die Schleuder eines Hirtenknaben, die
große Panacee, gegen die Krankheit des Reli-
gionszweifels, und die Theodicee des Hirtenkna-
ben
, thaten wenig Wirkung, dagegen Stillings Jugend
-- ein Aufsatz, den ich gar nicht zum Druck, sondern blos einer
Gesellschaft junger Leute zum Vorlesen geschrieben hatte und den
Göthe ganz ohne mein Wissen und Wollen zum Druck beförderte,
machte unerwartete und unglaubliche Sensation; ich wurde drin-
gend aufgefordert, fortzufahren, und schrieb nun in Elberfeld
nacheinander Stillings Jünglingsjahre und Wander-
schaft
. Ich darf kühn behaupten, daß sehr wenig Bücher ihren
Verfassern ein so großes, edeldenkendes und wohlwollendes Publi-
kum erworben haben, als eben dieses; und noch jetzt, nach acht
und zwanzig Jahren, nach so vielen Veränderungen, Fortschritten
und Rückschritten in Kultur und Litteratur, ist und bleibt Stil-
ling
Mode; man liest ihn noch immerfort, mit eben der Lust
und mit eben der Erbauung als im Anfang; und welch einen
Segen dieß Buch in Ansehung der Religion und des wahren Chri-
stenthums gestiftet hat, das weiß der Allwissende und zum Theil
auch ich; denn ich kann eine Menge schriftlicher Zeugnisse dieser
Wahrheit aufweisen. Stillings Lebensgeschichte legte also den
ersten und bedeutenden Grund zu meiner wahren Bestimmung
und Befolgung meines religiösen Grundtriebes.

Jetzt bitte ich wiederum sorgfältig zu bemer-
ken, daß ich zu diesem ausserordentlich wichtigen

— an Gelehrſamkeit und Kenntniſſen fehlte es mir nicht, ich
durchkroch alle alte und neue Winkel der mediziniſchen Litteratur,
aber ich fand in dieſer ſchwankenden Wiſſenſchaft lauter Unwiſ-
ſenſchaft, alles bloße Wahrſcheinlichkeit und Vermuthung; jetzt
war ich der Arzneikunde herzlich muͤde; aber womit ſollte ich
mich nun naͤhren, und — womit meine Schulden be-
zahlen
? — da mußte ich mich der Vorſehung auf Gnade und
Ungnade ergeben; und das that ich auch auf immer und ewig,
und von Herzen, und dieſe Uebergabe iſt nicht allein nicht auf-
gehoben, ſondern ſie iſt bis dahin immer ſtaͤrker und immer un-
bedingter geworden.

Religioͤſe Buͤcher? — Ja, die ſchrieb ich, aber ohne merkli-
chen Erfolg: die Schleuder eines Hirtenknaben, die
große Panacee, gegen die Krankheit des Reli-
gionszweifels, und die Theodicee des Hirtenkna-
ben
, thaten wenig Wirkung, dagegen Stillings Jugend
— ein Aufſatz, den ich gar nicht zum Druck, ſondern blos einer
Geſellſchaft junger Leute zum Vorleſen geſchrieben hatte und den
Goͤthe ganz ohne mein Wiſſen und Wollen zum Druck befoͤrderte,
machte unerwartete und unglaubliche Senſation; ich wurde drin-
gend aufgefordert, fortzufahren, und ſchrieb nun in Elberfeld
nacheinander Stillings Juͤnglingsjahre und Wander-
ſchaft
. Ich darf kuͤhn behaupten, daß ſehr wenig Buͤcher ihren
Verfaſſern ein ſo großes, edeldenkendes und wohlwollendes Publi-
kum erworben haben, als eben dieſes; und noch jetzt, nach acht
und zwanzig Jahren, nach ſo vielen Veraͤnderungen, Fortſchritten
und Ruͤckſchritten in Kultur und Litteratur, iſt und bleibt Stil-
ling
Mode; man liest ihn noch immerfort, mit eben der Luſt
und mit eben der Erbauung als im Anfang; und welch einen
Segen dieß Buch in Anſehung der Religion und des wahren Chri-
ſtenthums geſtiftet hat, das weiß der Allwiſſende und zum Theil
auch ich; denn ich kann eine Menge ſchriftlicher Zeugniſſe dieſer
Wahrheit aufweiſen. Stillings Lebensgeſchichte legte alſo den
erſten und bedeutenden Grund zu meiner wahren Beſtimmung
und Befolgung meines religioͤſen Grundtriebes.

Jetzt bitte ich wiederum ſorgfaͤltig zu bemer-
ken, daß ich zu dieſem auſſerordentlich wichtigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0604" n="596"/>
&#x2014; an Gelehr&#x017F;amkeit und Kenntni&#x017F;&#x017F;en fehlte es mir nicht, ich<lb/>
durchkroch alle alte und neue Winkel der medizini&#x017F;chen Litteratur,<lb/>
aber ich fand in die&#x017F;er &#x017F;chwankenden Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft lauter Unwi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaft, alles bloße Wahr&#x017F;cheinlichkeit und Vermuthung; jetzt<lb/>
war ich der Arzneikunde herzlich mu&#x0364;de; aber womit &#x017F;ollte ich<lb/>
mich nun na&#x0364;hren, und &#x2014; <hi rendition="#g">womit meine Schulden be-<lb/>
zahlen</hi>? &#x2014; da mußte ich mich der Vor&#x017F;ehung auf Gnade und<lb/>
Ungnade ergeben; und das that ich auch auf immer und ewig,<lb/>
und von Herzen, und die&#x017F;e Uebergabe i&#x017F;t nicht allein nicht auf-<lb/>
gehoben, &#x017F;ondern &#x017F;ie i&#x017F;t bis dahin immer &#x017F;ta&#x0364;rker und immer un-<lb/>
bedingter geworden.</p><lb/>
          <p>Religio&#x0364;&#x017F;e Bu&#x0364;cher? &#x2014; Ja, die &#x017F;chrieb ich, aber ohne merkli-<lb/>
chen Erfolg: <hi rendition="#g">die Schleuder eines Hirtenknaben, die<lb/>
große Panacee, gegen die Krankheit des Reli-<lb/>
gionszweifels, und die Theodicee des Hirtenkna-<lb/>
ben</hi>, thaten wenig Wirkung, dagegen <hi rendition="#g">Stillings Jugend</hi><lb/>
&#x2014; ein Auf&#x017F;atz, den ich gar nicht zum Druck, &#x017F;ondern blos einer<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft junger Leute zum Vorle&#x017F;en ge&#x017F;chrieben hatte und den<lb/><hi rendition="#g">Go&#x0364;the</hi> ganz ohne mein Wi&#x017F;&#x017F;en und Wollen zum Druck befo&#x0364;rderte,<lb/>
machte unerwartete und unglaubliche Sen&#x017F;ation; ich wurde drin-<lb/>
gend aufgefordert, fortzufahren, und &#x017F;chrieb nun in <hi rendition="#g">Elberfeld</hi><lb/>
nacheinander <hi rendition="#g">Stillings Ju&#x0364;nglingsjahre</hi> und <hi rendition="#g">Wander-<lb/>
&#x017F;chaft</hi>. Ich darf ku&#x0364;hn behaupten, daß &#x017F;ehr wenig Bu&#x0364;cher ihren<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ern ein &#x017F;o großes, edeldenkendes und wohlwollendes Publi-<lb/>
kum erworben haben, als eben die&#x017F;es; und noch jetzt, nach acht<lb/>
und zwanzig Jahren, nach &#x017F;o vielen Vera&#x0364;nderungen, Fort&#x017F;chritten<lb/>
und Ru&#x0364;ck&#x017F;chritten in Kultur und Litteratur, i&#x017F;t und bleibt <hi rendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> Mode; man liest ihn noch immerfort, mit eben der Lu&#x017F;t<lb/>
und mit eben der Erbauung als im Anfang; und welch einen<lb/>
Segen dieß Buch in An&#x017F;ehung der Religion und des wahren Chri-<lb/>
&#x017F;tenthums ge&#x017F;tiftet hat, das weiß der Allwi&#x017F;&#x017F;ende und zum Theil<lb/>
auch ich; denn ich kann eine Menge &#x017F;chriftlicher Zeugni&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;er<lb/>
Wahrheit aufwei&#x017F;en. <hi rendition="#g">Stillings</hi> Lebensge&#x017F;chichte legte al&#x017F;o den<lb/>
er&#x017F;ten und bedeutenden Grund zu meiner wahren Be&#x017F;timmung<lb/>
und Befolgung meines religio&#x0364;&#x017F;en Grundtriebes.</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#g">Jetzt bitte ich wiederum &#x017F;orgfa&#x0364;ltig zu bemer-<lb/>
ken, daß ich zu die&#x017F;em au&#x017F;&#x017F;erordentlich wichtigen<lb/></hi> </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[596/0604] — an Gelehrſamkeit und Kenntniſſen fehlte es mir nicht, ich durchkroch alle alte und neue Winkel der mediziniſchen Litteratur, aber ich fand in dieſer ſchwankenden Wiſſenſchaft lauter Unwiſ- ſenſchaft, alles bloße Wahrſcheinlichkeit und Vermuthung; jetzt war ich der Arzneikunde herzlich muͤde; aber womit ſollte ich mich nun naͤhren, und — womit meine Schulden be- zahlen? — da mußte ich mich der Vorſehung auf Gnade und Ungnade ergeben; und das that ich auch auf immer und ewig, und von Herzen, und dieſe Uebergabe iſt nicht allein nicht auf- gehoben, ſondern ſie iſt bis dahin immer ſtaͤrker und immer un- bedingter geworden. Religioͤſe Buͤcher? — Ja, die ſchrieb ich, aber ohne merkli- chen Erfolg: die Schleuder eines Hirtenknaben, die große Panacee, gegen die Krankheit des Reli- gionszweifels, und die Theodicee des Hirtenkna- ben, thaten wenig Wirkung, dagegen Stillings Jugend — ein Aufſatz, den ich gar nicht zum Druck, ſondern blos einer Geſellſchaft junger Leute zum Vorleſen geſchrieben hatte und den Goͤthe ganz ohne mein Wiſſen und Wollen zum Druck befoͤrderte, machte unerwartete und unglaubliche Senſation; ich wurde drin- gend aufgefordert, fortzufahren, und ſchrieb nun in Elberfeld nacheinander Stillings Juͤnglingsjahre und Wander- ſchaft. Ich darf kuͤhn behaupten, daß ſehr wenig Buͤcher ihren Verfaſſern ein ſo großes, edeldenkendes und wohlwollendes Publi- kum erworben haben, als eben dieſes; und noch jetzt, nach acht und zwanzig Jahren, nach ſo vielen Veraͤnderungen, Fortſchritten und Ruͤckſchritten in Kultur und Litteratur, iſt und bleibt Stil- ling Mode; man liest ihn noch immerfort, mit eben der Luſt und mit eben der Erbauung als im Anfang; und welch einen Segen dieß Buch in Anſehung der Religion und des wahren Chri- ſtenthums geſtiftet hat, das weiß der Allwiſſende und zum Theil auch ich; denn ich kann eine Menge ſchriftlicher Zeugniſſe dieſer Wahrheit aufweiſen. Stillings Lebensgeſchichte legte alſo den erſten und bedeutenden Grund zu meiner wahren Beſtimmung und Befolgung meines religioͤſen Grundtriebes. Jetzt bitte ich wiederum ſorgfaͤltig zu bemer- ken, daß ich zu dieſem auſſerordentlich wichtigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/604
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/604>, abgerufen am 10.06.2024.