Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Stillings Gewissen aber, das durch viele Glaubens- und
Leidenserfahrungen berichtigt, und durch die langwierige vieljäh-
rige Zucht der Gnade von allen Sophistereyen gereinigt ist, ur-
theilt ganz anders; nach seiner innigsten Ueberzeugung mußte er
durchaus sein Amt niederlegen, seine Besoldung in die Hände
seines Fürsten wieder zurückgeben, sobald er sie nicht mehr
zur Befriedigung desselben und seines eigenen Gewissens verdie-
nen konnte. -- Dieser Satz leidet durchaus keine Einschränkung,
und wer anders denkt, der denkt unrichtig. Stilling konnte
auch das getrost thun und wagen, da ihm jetzt ein Weg gezeigt
wurde, auf welchem er zum Ziel gelangte, sobald er ihn einschlug;
er hatte in wenigen Jahren erfahren, daß der Herr Mittel ge-
nug habe, ohne die Marburger Besoldung aus der Noth zu
helfen: denn nicht nur mit dieser, sondern mit Schweizergeld
wurden die Schulden getilgt, mit Diesem und nicht mit Jener
wird der Zug und die neue Einrichtung bestritten. Es ist fer-
ner des wahren Christen unbedingte Pflicht, sobald ihm unter
verschiedenen Berufsarten die Wahl gelassen wird, diejenige zu
wählen, die der Menschheit den mehresten Nutzen bringt, am
wohlthätigsten wirkt, und dabei kommt es nun gar nicht auf ein
kleineres, oder überhaupt auf einen Gehalt an: denn sobald
man diesen Grundsatz befolgt, sobald tritt man in den unmit-
telbaren Dienst des Vaters und Regenten aller Menschen, daß
Der nun seine Diener besoldet, ihnen gibt, was sie bedürfen,
das versteht sich -- Stilling fand sich also hoch verpflichtet,
dem Ruf zu folgen: denn daß er durch seine Augenkuren, und
vorzüglich durch seine Schriftstellerei, unendlich mehr Nutzen stif-
tet, als durch sein akademisches Lehramt, das ist gar keinem
Zweifel unterworfen, und eben jene Fächer machten seinen gan-
zen Beruf aus, wenn er die Baden'sche Vokation annahm;
es war also durchaus Pflicht, den Ruf anzunehmen, vorzüglich
da noch mit der Zeit Besoldungsvermehrung und zwar von einem
Herrn versprochen wurde, der gewiß hält, was er verspricht.

Zu diesem Allem kam nun noch Stillings ganze Führung
von der Wiege an; der müßte sehr blind seyn, der nicht einsehen
könnte, daß diese planmäßig den Weg zu der Thür gezeigt hat,
die der Kurfürst von Baden jetzt öffnete. Hätte Stilling

Stillings Gewiſſen aber, das durch viele Glaubens- und
Leidenserfahrungen berichtigt, und durch die langwierige vieljaͤh-
rige Zucht der Gnade von allen Sophiſtereyen gereinigt iſt, ur-
theilt ganz anders; nach ſeiner innigſten Ueberzeugung mußte er
durchaus ſein Amt niederlegen, ſeine Beſoldung in die Haͤnde
ſeines Fuͤrſten wieder zuruͤckgeben, ſobald er ſie nicht mehr
zur Befriedigung deſſelben und ſeines eigenen Gewiſſens verdie-
nen konnte. — Dieſer Satz leidet durchaus keine Einſchraͤnkung,
und wer anders denkt, der denkt unrichtig. Stilling konnte
auch das getroſt thun und wagen, da ihm jetzt ein Weg gezeigt
wurde, auf welchem er zum Ziel gelangte, ſobald er ihn einſchlug;
er hatte in wenigen Jahren erfahren, daß der Herr Mittel ge-
nug habe, ohne die Marburger Beſoldung aus der Noth zu
helfen: denn nicht nur mit dieſer, ſondern mit Schweizergeld
wurden die Schulden getilgt, mit Dieſem und nicht mit Jener
wird der Zug und die neue Einrichtung beſtritten. Es iſt fer-
ner des wahren Chriſten unbedingte Pflicht, ſobald ihm unter
verſchiedenen Berufsarten die Wahl gelaſſen wird, diejenige zu
waͤhlen, die der Menſchheit den mehreſten Nutzen bringt, am
wohlthaͤtigſten wirkt, und dabei kommt es nun gar nicht auf ein
kleineres, oder uͤberhaupt auf einen Gehalt an: denn ſobald
man dieſen Grundſatz befolgt, ſobald tritt man in den unmit-
telbaren Dienſt des Vaters und Regenten aller Menſchen, daß
Der nun ſeine Diener beſoldet, ihnen gibt, was ſie beduͤrfen,
das verſteht ſich — Stilling fand ſich alſo hoch verpflichtet,
dem Ruf zu folgen: denn daß er durch ſeine Augenkuren, und
vorzuͤglich durch ſeine Schriftſtellerei, unendlich mehr Nutzen ſtif-
tet, als durch ſein akademiſches Lehramt, das iſt gar keinem
Zweifel unterworfen, und eben jene Faͤcher machten ſeinen gan-
zen Beruf aus, wenn er die Baden’ſche Vokation annahm;
es war alſo durchaus Pflicht, den Ruf anzunehmen, vorzuͤglich
da noch mit der Zeit Beſoldungsvermehrung und zwar von einem
Herrn verſprochen wurde, der gewiß haͤlt, was er verſpricht.

Zu dieſem Allem kam nun noch Stillings ganze Fuͤhrung
von der Wiege an; der muͤßte ſehr blind ſeyn, der nicht einſehen
koͤnnte, daß dieſe planmaͤßig den Weg zu der Thuͤr gezeigt hat,
die der Kurfuͤrſt von Baden jetzt oͤffnete. Haͤtte Stilling

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0587" n="579"/>
            <p><hi rendition="#g">Stillings</hi> Gewi&#x017F;&#x017F;en aber, <hi rendition="#g">das</hi> durch viele Glaubens- und<lb/>
Leidenserfahrungen berichtigt, und durch die langwierige vielja&#x0364;h-<lb/>
rige Zucht der Gnade von allen Sophi&#x017F;tereyen gereinigt i&#x017F;t, ur-<lb/>
theilt ganz anders; nach &#x017F;einer innig&#x017F;ten Ueberzeugung mußte er<lb/>
durchaus &#x017F;ein Amt niederlegen, &#x017F;eine Be&#x017F;oldung in die Ha&#x0364;nde<lb/>
&#x017F;eines Fu&#x0364;r&#x017F;ten wieder zuru&#x0364;ckgeben, &#x017F;obald er &#x017F;ie nicht mehr<lb/>
zur Befriedigung de&#x017F;&#x017F;elben und &#x017F;eines eigenen Gewi&#x017F;&#x017F;ens verdie-<lb/>
nen konnte. &#x2014; Die&#x017F;er Satz leidet durchaus keine Ein&#x017F;chra&#x0364;nkung,<lb/>
und wer anders denkt, der denkt unrichtig. <hi rendition="#g">Stilling</hi> konnte<lb/>
auch das getro&#x017F;t thun und wagen, da ihm jetzt ein Weg gezeigt<lb/>
wurde, auf welchem er zum Ziel gelangte, &#x017F;obald er ihn ein&#x017F;chlug;<lb/>
er hatte in wenigen Jahren erfahren, daß der Herr Mittel ge-<lb/>
nug habe, ohne die <hi rendition="#g">Marburger</hi> Be&#x017F;oldung aus der Noth zu<lb/>
helfen: denn nicht nur mit die&#x017F;er, &#x017F;ondern mit Schweizergeld<lb/>
wurden die Schulden getilgt, mit Die&#x017F;em und nicht mit Jener<lb/>
wird der Zug und die neue Einrichtung be&#x017F;tritten. Es i&#x017F;t fer-<lb/>
ner des wahren Chri&#x017F;ten unbedingte Pflicht, &#x017F;obald ihm unter<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Berufsarten die Wahl gela&#x017F;&#x017F;en wird, diejenige zu<lb/>
wa&#x0364;hlen, die der Men&#x017F;chheit den mehre&#x017F;ten Nutzen bringt, am<lb/>
wohltha&#x0364;tig&#x017F;ten wirkt, und dabei kommt es nun gar nicht auf ein<lb/>
kleineres, oder u&#x0364;berhaupt auf <hi rendition="#g">einen Gehalt</hi> an: denn &#x017F;obald<lb/>
man die&#x017F;en Grund&#x017F;atz befolgt, &#x017F;obald tritt man in den unmit-<lb/>
telbaren Dien&#x017F;t des Vaters und Regenten aller Men&#x017F;chen, daß<lb/>
Der nun &#x017F;eine Diener be&#x017F;oldet, ihnen gibt, was &#x017F;ie bedu&#x0364;rfen,<lb/>
das ver&#x017F;teht &#x017F;ich &#x2014; <hi rendition="#g">Stilling</hi> fand &#x017F;ich al&#x017F;o hoch verpflichtet,<lb/>
dem Ruf zu folgen: denn daß er durch &#x017F;eine Augenkuren, und<lb/>
vorzu&#x0364;glich durch &#x017F;eine Schrift&#x017F;tellerei, unendlich mehr Nutzen &#x017F;tif-<lb/>
tet, als durch &#x017F;ein akademi&#x017F;ches Lehramt, das i&#x017F;t gar keinem<lb/>
Zweifel unterworfen, und eben jene Fa&#x0364;cher machten &#x017F;einen gan-<lb/>
zen Beruf aus, wenn er die <hi rendition="#g">Baden</hi>&#x2019;&#x017F;che Vokation annahm;<lb/>
es war al&#x017F;o durchaus Pflicht, den Ruf anzunehmen, vorzu&#x0364;glich<lb/>
da noch mit der Zeit Be&#x017F;oldungsvermehrung und zwar von einem<lb/>
Herrn ver&#x017F;prochen wurde, der gewiß ha&#x0364;lt, was <hi rendition="#g">er ver&#x017F;pricht</hi>.</p><lb/>
            <p>Zu die&#x017F;em Allem kam nun noch <hi rendition="#g">Stillings</hi> ganze Fu&#x0364;hrung<lb/>
von der Wiege an; der mu&#x0364;ßte &#x017F;ehr blind &#x017F;eyn, der nicht ein&#x017F;ehen<lb/>
ko&#x0364;nnte, daß die&#x017F;e planma&#x0364;ßig den Weg zu <hi rendition="#g">der</hi> Thu&#x0364;r gezeigt hat,<lb/>
die der Kurfu&#x0364;r&#x017F;t von <hi rendition="#g">Baden</hi> jetzt o&#x0364;ffnete. Ha&#x0364;tte <hi rendition="#g">Stilling</hi><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[579/0587] Stillings Gewiſſen aber, das durch viele Glaubens- und Leidenserfahrungen berichtigt, und durch die langwierige vieljaͤh- rige Zucht der Gnade von allen Sophiſtereyen gereinigt iſt, ur- theilt ganz anders; nach ſeiner innigſten Ueberzeugung mußte er durchaus ſein Amt niederlegen, ſeine Beſoldung in die Haͤnde ſeines Fuͤrſten wieder zuruͤckgeben, ſobald er ſie nicht mehr zur Befriedigung deſſelben und ſeines eigenen Gewiſſens verdie- nen konnte. — Dieſer Satz leidet durchaus keine Einſchraͤnkung, und wer anders denkt, der denkt unrichtig. Stilling konnte auch das getroſt thun und wagen, da ihm jetzt ein Weg gezeigt wurde, auf welchem er zum Ziel gelangte, ſobald er ihn einſchlug; er hatte in wenigen Jahren erfahren, daß der Herr Mittel ge- nug habe, ohne die Marburger Beſoldung aus der Noth zu helfen: denn nicht nur mit dieſer, ſondern mit Schweizergeld wurden die Schulden getilgt, mit Dieſem und nicht mit Jener wird der Zug und die neue Einrichtung beſtritten. Es iſt fer- ner des wahren Chriſten unbedingte Pflicht, ſobald ihm unter verſchiedenen Berufsarten die Wahl gelaſſen wird, diejenige zu waͤhlen, die der Menſchheit den mehreſten Nutzen bringt, am wohlthaͤtigſten wirkt, und dabei kommt es nun gar nicht auf ein kleineres, oder uͤberhaupt auf einen Gehalt an: denn ſobald man dieſen Grundſatz befolgt, ſobald tritt man in den unmit- telbaren Dienſt des Vaters und Regenten aller Menſchen, daß Der nun ſeine Diener beſoldet, ihnen gibt, was ſie beduͤrfen, das verſteht ſich — Stilling fand ſich alſo hoch verpflichtet, dem Ruf zu folgen: denn daß er durch ſeine Augenkuren, und vorzuͤglich durch ſeine Schriftſtellerei, unendlich mehr Nutzen ſtif- tet, als durch ſein akademiſches Lehramt, das iſt gar keinem Zweifel unterworfen, und eben jene Faͤcher machten ſeinen gan- zen Beruf aus, wenn er die Baden’ſche Vokation annahm; es war alſo durchaus Pflicht, den Ruf anzunehmen, vorzuͤglich da noch mit der Zeit Beſoldungsvermehrung und zwar von einem Herrn verſprochen wurde, der gewiß haͤlt, was er verſpricht. Zu dieſem Allem kam nun noch Stillings ganze Fuͤhrung von der Wiege an; der muͤßte ſehr blind ſeyn, der nicht einſehen koͤnnte, daß dieſe planmaͤßig den Weg zu der Thuͤr gezeigt hat, die der Kurfuͤrſt von Baden jetzt oͤffnete. Haͤtte Stilling

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/587
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/587>, abgerufen am 22.11.2024.