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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Hannchen hatte von Jugend auf an einer Flechte auf
dem linken Backen sehr viel und oftmals schrecklich gelitten;
Selma wendete alle möglichen Mittel an, um sie davon zu
befreien, und Elise setzte die Sorge mit allem Eifer fort.
Nun kam gerade zu der Zeit ein berühmter Arzt nach Mar-
burg
, dieser wurde auch zu Rath gezogen, und er verordnete
den Sublimat zum äußern Gebrauch; ob nun dieser, oder
eine von der seligen Mutter Christine angeerbte Anlage, oder
Beides zusammen, so schreckliche Folgen hervorbrachte, das
steht dahin -- Genug, Hannchen bekam um oben bemerkte
Zeit die fürchterlichsten Krämpfe. Diese, für jeden Zuschauer
so herzangreifenden Zufälle, waren Elisen noch besonders
schreckhaft -- und zu dem war sie guter Hoffnung -- dem
ungeachtet faßte sie Heldenmuth, und wurde Hannchens ge-
treue Wärterin. Der gute Gott aber bewahrte sie vor allen
nachtheiligen Folgen.

Dieß war der erste Act des Trauerspiels, nun folgte auch
der zweite; dieser war eine heiße, eine Glutprobe für Stil-
ling, Elise
und Hannchen. Ich will sie jungen Leuten
zur Warnung und Belehrung, doch so erzählen, daß eine ge-
wisse, mir sehr werthe Familie damit zufrieden seyn kann.

Hannchen hatte in einer honetten Gesellschaft, auf Ver-
langen, auf dem Klavier gespielt und dazu gesungen -- was
kann unschuldiger seyn, als dieses? -- und doch war es die
einzige Veranlassung zu einem angstvollen und schweren halb-
jährigen Leiden: ein junger Mensch, der Theologie studirte,
und dem man nie den Eigenwillen gebrochen, den Hann-
chen
nie gesehen, von ihm nie etwas gehört hatte, befand sich
in dieser Gesellschaft: durch den Gesang wird er so hingeris-
sen, daß er von nun an alle, und endlich die desperatesten
Mittel anwendete, um zu ihrem Besitz zu gelangen. Erst hielt
er um sie an, und als man ihm antwortete, wenn er eine an-
ständige Versorgung hätte, so würde man, wenn er Hann-
chens
Einwilligung bekommen könnte, nichts dagegen haben.
Dieß war ihm aber bei weitem nicht genug -- er bestand
darauf, daß man ihm jetzt die Heirath mit ihr versichern
sollte. Hannchen erklärte sich laut, daß sie ihn nie lieben,

Hannchen hatte von Jugend auf an einer Flechte auf
dem linken Backen ſehr viel und oftmals ſchrecklich gelitten;
Selma wendete alle moͤglichen Mittel an, um ſie davon zu
befreien, und Eliſe ſetzte die Sorge mit allem Eifer fort.
Nun kam gerade zu der Zeit ein beruͤhmter Arzt nach Mar-
burg
, dieſer wurde auch zu Rath gezogen, und er verordnete
den Sublimat zum aͤußern Gebrauch; ob nun dieſer, oder
eine von der ſeligen Mutter Chriſtine angeerbte Anlage, oder
Beides zuſammen, ſo ſchreckliche Folgen hervorbrachte, das
ſteht dahin — Genug, Hannchen bekam um oben bemerkte
Zeit die fuͤrchterlichſten Kraͤmpfe. Dieſe, fuͤr jeden Zuſchauer
ſo herzangreifenden Zufaͤlle, waren Eliſen noch beſonders
ſchreckhaft — und zu dem war ſie guter Hoffnung — dem
ungeachtet faßte ſie Heldenmuth, und wurde Hannchens ge-
treue Waͤrterin. Der gute Gott aber bewahrte ſie vor allen
nachtheiligen Folgen.

Dieß war der erſte Act des Trauerſpiels, nun folgte auch
der zweite; dieſer war eine heiße, eine Glutprobe fuͤr Stil-
ling, Eliſe
und Hannchen. Ich will ſie jungen Leuten
zur Warnung und Belehrung, doch ſo erzaͤhlen, daß eine ge-
wiſſe, mir ſehr werthe Familie damit zufrieden ſeyn kann.

Hannchen hatte in einer honetten Geſellſchaft, auf Ver-
langen, auf dem Klavier geſpielt und dazu geſungen — was
kann unſchuldiger ſeyn, als dieſes? — und doch war es die
einzige Veranlaſſung zu einem angſtvollen und ſchweren halb-
jaͤhrigen Leiden: ein junger Menſch, der Theologie ſtudirte,
und dem man nie den Eigenwillen gebrochen, den Hann-
chen
nie geſehen, von ihm nie etwas gehoͤrt hatte, befand ſich
in dieſer Geſellſchaft: durch den Geſang wird er ſo hingeriſ-
ſen, daß er von nun an alle, und endlich die desperateſten
Mittel anwendete, um zu ihrem Beſitz zu gelangen. Erſt hielt
er um ſie an, und als man ihm antwortete, wenn er eine an-
ſtaͤndige Verſorgung haͤtte, ſo wuͤrde man, wenn er Hann-
chens
Einwilligung bekommen koͤnnte, nichts dagegen haben.
Dieß war ihm aber bei weitem nicht genug — er beſtand
darauf, daß man ihm jetzt die Heirath mit ihr verſichern
ſollte. Hannchen erklaͤrte ſich laut, daß ſie ihn nie lieben,

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[463[465]/0473] Hannchen hatte von Jugend auf an einer Flechte auf dem linken Backen ſehr viel und oftmals ſchrecklich gelitten; Selma wendete alle moͤglichen Mittel an, um ſie davon zu befreien, und Eliſe ſetzte die Sorge mit allem Eifer fort. Nun kam gerade zu der Zeit ein beruͤhmter Arzt nach Mar- burg, dieſer wurde auch zu Rath gezogen, und er verordnete den Sublimat zum aͤußern Gebrauch; ob nun dieſer, oder eine von der ſeligen Mutter Chriſtine angeerbte Anlage, oder Beides zuſammen, ſo ſchreckliche Folgen hervorbrachte, das ſteht dahin — Genug, Hannchen bekam um oben bemerkte Zeit die fuͤrchterlichſten Kraͤmpfe. Dieſe, fuͤr jeden Zuſchauer ſo herzangreifenden Zufaͤlle, waren Eliſen noch beſonders ſchreckhaft — und zu dem war ſie guter Hoffnung — dem ungeachtet faßte ſie Heldenmuth, und wurde Hannchens ge- treue Waͤrterin. Der gute Gott aber bewahrte ſie vor allen nachtheiligen Folgen. Dieß war der erſte Act des Trauerſpiels, nun folgte auch der zweite; dieſer war eine heiße, eine Glutprobe fuͤr Stil- ling, Eliſe und Hannchen. Ich will ſie jungen Leuten zur Warnung und Belehrung, doch ſo erzaͤhlen, daß eine ge- wiſſe, mir ſehr werthe Familie damit zufrieden ſeyn kann. Hannchen hatte in einer honetten Geſellſchaft, auf Ver- langen, auf dem Klavier geſpielt und dazu geſungen — was kann unſchuldiger ſeyn, als dieſes? — und doch war es die einzige Veranlaſſung zu einem angſtvollen und ſchweren halb- jaͤhrigen Leiden: ein junger Menſch, der Theologie ſtudirte, und dem man nie den Eigenwillen gebrochen, den Hann- chen nie geſehen, von ihm nie etwas gehoͤrt hatte, befand ſich in dieſer Geſellſchaft: durch den Geſang wird er ſo hingeriſ- ſen, daß er von nun an alle, und endlich die desperateſten Mittel anwendete, um zu ihrem Beſitz zu gelangen. Erſt hielt er um ſie an, und als man ihm antwortete, wenn er eine an- ſtaͤndige Verſorgung haͤtte, ſo wuͤrde man, wenn er Hann- chens Einwilligung bekommen koͤnnte, nichts dagegen haben. Dieß war ihm aber bei weitem nicht genug — er beſtand darauf, daß man ihm jetzt die Heirath mit ihr verſichern ſollte. Hannchen erklaͤrte ſich laut, daß ſie ihn nie lieben,

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 463[465]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/473>, abgerufen am 24.06.2024.