So sehr auch Stilling nun von dieser Seite beruhigt war, so sehr drohte ihm von einer andern eine noch größere Gefahr; ein weit feinerer und daher auch gefährlicherer Feind suchte ihn zu berücken: sein häufiger Umgang mit Rasch- mann flößte ihm allmählich, ohne daß ers merkte, eine Menge Ideen ein, die ihm einzeln gar nicht bedenklich schienen, aber hernach im Ganzen -- zusammengenommen -- eine Anlage bildeten, aus der mit der Zeit nichts anders, als: erst Sozi- nianismus, dann Deismus, dann Naturalismus und endlich Atheismus und mit ihm das Widerchristen- thum entstehen kann. So weit ließ es nun zwar sein himm- lischer Führer nicht mit ihm kommen, daß er auch nur einen Anfang zu diesem Abfall von der himmlischen Wahrheit ge- macht hätte, indessen war das doch schon arg genug, daß ihm der versöhnende Opfertod Jesu anfing, eine orientalische Aus- schmückung des sittlichen Verdienstes Christi um die Mensch- heit zu seyn.
Raschmann wußte dieß mit so vieler Wärme und Ehr- erbietung gegen den Erlöser, und mit einer so scheinbaren Liebe gegen ihn vorzutragen, daß Stilling anfing, überzeugt zu werden. Doch kam es nicht weiter mit ihm, denn seine reli- giösen Begriffe und häufigen Erfahrungen waren gar zu tief in seinem ganzen Wesen eingewurzelt, als daß der Abfall weiter hätte gehen, oder auch nur beginnen können.
Dieser Zustand währte etwa ein Jahr, und eine gewisse erlauchte und begnadigte Dame wird sich noch eines Briefes von Stilling aus dieser Zeit erinnern, der ihm ihre Liebe und Achtung auf eine Zeitlang -- nämlich so lang entzog, bis er wieder aufs Reine gekommen war.
Gottlob! dahin kam er wieder, und nun bemerkte er mit Erstannen, wie sehr sich allmählig die züchtigende Gnade schon von seinem Herzen entfernt hatte -- von weitem zeigten sich schon längst erloschene sündliche sinnliche Triebe in seinem Herzen, und der innere Gottesfriede war in seiner Seele zu einem fernen Schimmer geworden. Der gute Hirte holte ihn um, und leitete ihn wieder auf den rechten Weg, die Mittel dazu zeigt der Verfolg der Geschichte.
So ſehr auch Stilling nun von dieſer Seite beruhigt war, ſo ſehr drohte ihm von einer andern eine noch groͤßere Gefahr; ein weit feinerer und daher auch gefaͤhrlicherer Feind ſuchte ihn zu beruͤcken: ſein haͤufiger Umgang mit Raſch- mann floͤßte ihm allmaͤhlich, ohne daß ers merkte, eine Menge Ideen ein, die ihm einzeln gar nicht bedenklich ſchienen, aber hernach im Ganzen — zuſammengenommen — eine Anlage bildeten, aus der mit der Zeit nichts anders, als: erſt Sozi- nianismus, dann Deismus, dann Naturalismus und endlich Atheismus und mit ihm das Widerchriſten- thum entſtehen kann. So weit ließ es nun zwar ſein himm- liſcher Fuͤhrer nicht mit ihm kommen, daß er auch nur einen Anfang zu dieſem Abfall von der himmliſchen Wahrheit ge- macht haͤtte, indeſſen war das doch ſchon arg genug, daß ihm der verſoͤhnende Opfertod Jeſu anfing, eine orientaliſche Aus- ſchmuͤckung des ſittlichen Verdienſtes Chriſti um die Menſch- heit zu ſeyn.
Raſchmann wußte dieß mit ſo vieler Waͤrme und Ehr- erbietung gegen den Erloͤſer, und mit einer ſo ſcheinbaren Liebe gegen ihn vorzutragen, daß Stilling anfing, uͤberzeugt zu werden. Doch kam es nicht weiter mit ihm, denn ſeine reli- gioͤſen Begriffe und haͤufigen Erfahrungen waren gar zu tief in ſeinem ganzen Weſen eingewurzelt, als daß der Abfall weiter haͤtte gehen, oder auch nur beginnen koͤnnen.
Dieſer Zuſtand waͤhrte etwa ein Jahr, und eine gewiſſe erlauchte und begnadigte Dame wird ſich noch eines Briefes von Stilling aus dieſer Zeit erinnern, der ihm ihre Liebe und Achtung auf eine Zeitlang — naͤmlich ſo lang entzog, bis er wieder aufs Reine gekommen war.
Gottlob! dahin kam er wieder, und nun bemerkte er mit Erſtannen, wie ſehr ſich allmaͤhlig die zuͤchtigende Gnade ſchon von ſeinem Herzen entfernt hatte — von weitem zeigten ſich ſchon laͤngſt erloſchene ſuͤndliche ſinnliche Triebe in ſeinem Herzen, und der innere Gottesfriede war in ſeiner Seele zu einem fernen Schimmer geworden. Der gute Hirte holte ihn um, und leitete ihn wieder auf den rechten Weg, die Mittel dazu zeigt der Verfolg der Geſchichte.
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So ſehr auch Stilling nun von dieſer Seite beruhigt
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ſuchte ihn zu beruͤcken: ſein haͤufiger Umgang mit Raſch-
mann floͤßte ihm allmaͤhlich, ohne daß ers merkte, eine Menge
Ideen ein, die ihm einzeln gar nicht bedenklich ſchienen, aber
hernach im Ganzen — zuſammengenommen — eine Anlage
bildeten, aus der mit der Zeit nichts anders, als: erſt Sozi-
nianismus, dann Deismus, dann Naturalismus
und endlich Atheismus und mit ihm das Widerchriſten-
thum entſtehen kann. So weit ließ es nun zwar ſein himm-
liſcher Fuͤhrer nicht mit ihm kommen, daß er auch nur einen
Anfang zu dieſem Abfall von der himmliſchen Wahrheit ge-
macht haͤtte, indeſſen war das doch ſchon arg genug, daß ihm
der verſoͤhnende Opfertod Jeſu anfing, eine orientaliſche Aus-
ſchmuͤckung des ſittlichen Verdienſtes Chriſti um die Menſch-
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Raſchmann wußte dieß mit ſo vieler Waͤrme und Ehr-
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gegen ihn vorzutragen, daß Stilling anfing, uͤberzeugt zu
werden. Doch kam es nicht weiter mit ihm, denn ſeine reli-
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weiter haͤtte gehen, oder auch nur beginnen koͤnnen.
Dieſer Zuſtand waͤhrte etwa ein Jahr, und eine gewiſſe
erlauchte und begnadigte Dame wird ſich noch eines Briefes
von Stilling aus dieſer Zeit erinnern, der ihm ihre Liebe
und Achtung auf eine Zeitlang — naͤmlich ſo lang entzog, bis
er wieder aufs Reine gekommen war.
Gottlob! dahin kam er wieder, und nun bemerkte er mit
Erſtannen, wie ſehr ſich allmaͤhlig die zuͤchtigende Gnade ſchon
von ſeinem Herzen entfernt hatte — von weitem zeigten ſich
ſchon laͤngſt erloſchene ſuͤndliche ſinnliche Triebe in ſeinem
Herzen, und der innere Gottesfriede war in ſeiner Seele zu
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/455>, abgerufen am 22.11.2024.
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