ten von beiden Seiten hatten sich miteinander verheirathet; Pfarrer Kraft in Frankfurt, Stillings alter und be- währter Freund, war Coings Schwager, ihre beiden Gattin- nen waren leibliche Schwestern; und was noch mehr als das Alles ist, sie waren von beiden Seiten Christen -- und dies knüpft das Band der Liebe und der Freundschaft fester als Alles; -- wo der Geist des Christenthums herrscht, da vereinigt er die Herzen durch das Band der Vollkommenheit in einem so hohen Grade, daß alle übrigen menschlichen Verhältnisse nicht damit vergli- chen werden können; der ist glücklich, der es erfährt!
Selma schloß sich vorzüglich an Elise Coing an, Gleich- heit des Alters, und vielleicht noch andere Ursachen, die in beider Frauenzimmer Charakter lagen, legten zu dieser näheren Vereinigung den Grund.
Die vielen und schweren Geschäfte, und besonders auch ein höchstbeschwerlicher Magenkrampf, der Stilling täglich, und besonders gegen Abend, sehr quälte, wirkten den ersten Winter in Marburg heftig auf sein Gemüth: er verlor seine Heiterkeit, wurde schwermüthig und so weichherzig, daß ihm bei dem geringsten rührenden Vorfall das Weinen un- vermeidlich wurde; daher suchte ihn Selma zu einer Reise zu bereden, die er in den Osterferien zu ihren Verwandten in Franken und im Oettingischen machen sollte. Mit vie- ler Mühe brachte sie ihn endlich zum Entschluß, und er un- ternahm diese Reise im Frühjahr 1788, ein Student von Anspach begleitete ihn bis in diese Stadt.
Es ist in Stillings Charakter etwas Eigenes, daß die Landschaften einen so tiefen und wohlthätigen Eindruck auf ihn machen: wenn er reiset oder auch nur spazieren geht, so ist es ihm immer wie dem Kunstliebhaber, wenn er in einer vortrefflichen Gemälde-Gallerie umherwandelt -- Stilling hat ein ästhetisches Gefühl für die schöne Natur.
Auf der Reise durch Franken quälte ihn der Magenkrampf unaufhörlich -- er konnte keine Speisen vertragen; aber der Charakter der Ansichten in diesem Lande war stärkend und tröstend für ihn -- in Franken wohnt eine große Natur.
In Anspach besuchte Stilling Deutschlands Oden-
29 *
ten von beiden Seiten hatten ſich miteinander verheirathet; Pfarrer Kraft in Frankfurt, Stillings alter und be- waͤhrter Freund, war Coings Schwager, ihre beiden Gattin- nen waren leibliche Schweſtern; und was noch mehr als das Alles iſt, ſie waren von beiden Seiten Chriſten — und dies knuͤpft das Band der Liebe und der Freundſchaft feſter als Alles; — wo der Geiſt des Chriſtenthums herrſcht, da vereinigt er die Herzen durch das Band der Vollkommenheit in einem ſo hohen Grade, daß alle uͤbrigen menſchlichen Verhaͤltniſſe nicht damit vergli- chen werden koͤnnen; der iſt gluͤcklich, der es erfaͤhrt!
Selma ſchloß ſich vorzuͤglich an Eliſe Coing an, Gleich- heit des Alters, und vielleicht noch andere Urſachen, die in beider Frauenzimmer Charakter lagen, legten zu dieſer naͤheren Vereinigung den Grund.
Die vielen und ſchweren Geſchaͤfte, und beſonders auch ein hoͤchſtbeſchwerlicher Magenkrampf, der Stilling taͤglich, und beſonders gegen Abend, ſehr quaͤlte, wirkten den erſten Winter in Marburg heftig auf ſein Gemuͤth: er verlor ſeine Heiterkeit, wurde ſchwermuͤthig und ſo weichherzig, daß ihm bei dem geringſten ruͤhrenden Vorfall das Weinen un- vermeidlich wurde; daher ſuchte ihn Selma zu einer Reiſe zu bereden, die er in den Oſterferien zu ihren Verwandten in Franken und im Oettingiſchen machen ſollte. Mit vie- ler Muͤhe brachte ſie ihn endlich zum Entſchluß, und er un- ternahm dieſe Reiſe im Fruͤhjahr 1788, ein Student von Anſpach begleitete ihn bis in dieſe Stadt.
Es iſt in Stillings Charakter etwas Eigenes, daß die Landſchaften einen ſo tiefen und wohlthaͤtigen Eindruck auf ihn machen: wenn er reiſet oder auch nur ſpazieren geht, ſo iſt es ihm immer wie dem Kunſtliebhaber, wenn er in einer vortrefflichen Gemaͤlde-Gallerie umherwandelt — Stilling hat ein aͤſthetiſches Gefuͤhl fuͤr die ſchoͤne Natur.
Auf der Reiſe durch Franken quaͤlte ihn der Magenkrampf unaufhoͤrlich — er konnte keine Speiſen vertragen; aber der Charakter der Anſichten in dieſem Lande war ſtaͤrkend und troͤſtend fuͤr ihn — in Franken wohnt eine große Natur.
In Anſpach beſuchte Stilling Deutſchlands Oden-
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ten von beiden Seiten hatten ſich miteinander verheirathet;
Pfarrer Kraft in Frankfurt, Stillings alter und be-
waͤhrter Freund, war Coings Schwager, ihre beiden Gattin-
nen waren leibliche Schweſtern; und was noch mehr als das
Alles iſt, ſie waren von beiden Seiten Chriſten — und dies knuͤpft
das Band der Liebe und der Freundſchaft feſter als Alles; — wo
der Geiſt des Chriſtenthums herrſcht, da vereinigt er die Herzen
durch das Band der Vollkommenheit in einem ſo hohen Grade,
daß alle uͤbrigen menſchlichen Verhaͤltniſſe nicht damit vergli-
chen werden koͤnnen; der iſt gluͤcklich, der es erfaͤhrt!
Selma ſchloß ſich vorzuͤglich an Eliſe Coing an, Gleich-
heit des Alters, und vielleicht noch andere Urſachen, die in
beider Frauenzimmer Charakter lagen, legten zu dieſer naͤheren
Vereinigung den Grund.
Die vielen und ſchweren Geſchaͤfte, und beſonders auch
ein hoͤchſtbeſchwerlicher Magenkrampf, der Stilling taͤglich,
und beſonders gegen Abend, ſehr quaͤlte, wirkten den erſten
Winter in Marburg heftig auf ſein Gemuͤth: er verlor
ſeine Heiterkeit, wurde ſchwermuͤthig und ſo weichherzig, daß
ihm bei dem geringſten ruͤhrenden Vorfall das Weinen un-
vermeidlich wurde; daher ſuchte ihn Selma zu einer Reiſe
zu bereden, die er in den Oſterferien zu ihren Verwandten in
Franken und im Oettingiſchen machen ſollte. Mit vie-
ler Muͤhe brachte ſie ihn endlich zum Entſchluß, und er un-
ternahm dieſe Reiſe im Fruͤhjahr 1788, ein Student von
Anſpach begleitete ihn bis in dieſe Stadt.
Es iſt in Stillings Charakter etwas Eigenes, daß die
Landſchaften einen ſo tiefen und wohlthaͤtigen Eindruck auf
ihn machen: wenn er reiſet oder auch nur ſpazieren geht, ſo
iſt es ihm immer wie dem Kunſtliebhaber, wenn er in einer
vortrefflichen Gemaͤlde-Gallerie umherwandelt — Stilling
hat ein aͤſthetiſches Gefuͤhl fuͤr die ſchoͤne Natur.
Auf der Reiſe durch Franken quaͤlte ihn der Magenkrampf
unaufhoͤrlich — er konnte keine Speiſen vertragen; aber der
Charakter der Anſichten in dieſem Lande war ſtaͤrkend und
troͤſtend fuͤr ihn — in Franken wohnt eine große Natur.
In Anſpach beſuchte Stilling Deutſchlands Oden-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/447>, abgerufen am 22.11.2024.
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