sich wegzwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden. Mein Dortchen hat mir gestern Abend herausgestammelt, daß es euch lieb habe; ich bin aber arm; was sagen eure Eltern? Sie sind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wil- helm. Dortchen drangen Thränen aus ihren hellen Augen, und der alte ehrwürdige Mann stand auf, nahm seiner Toch- ter rechte Hand, gab sie Wilhelmen und sagte: Ich habe nichts in der Welt, als zwo Töchter; diese ist mein Aug- apfel; nimm sie, Sohn! nimm sie! -- Er weinte -- "der Se- gen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch gesegnet vor ihm und seinen Heiligen und gesegnet vor der Welt! Eure Kinder müssen wahre Christen werden, eure Nachkommen seyen groß! Sie müssen angeschrieben stehen im Buche des Lebens! Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwach- heiten, aber ohne Anstoß hab' ich gewandelt und alle Men- schen geliebt; dieß sey auch eure Richtschnur, so werden meine Gebeine in Frieden ruhen!" Er wischte sich hier die Augen. Beide Verlobten küßten ihm Hände, Backen und Mund, und hernach auch sich selbst zum Erstenmale, und so saßen sie wie- der nieder. Der alte Herr fing hierauf an: Aber Dortchen, dein Bräutigam hat gebrechliche Füße, hast du das noch nicht gesehen? Ja, Papa, sagte sie, ich hab's gesehen; aber er re- det immer so gut und so fromm mit mir, daß ich selten Acht auf seine Füße gebe.
"Gut, Dortchen, die Mädchen pflegen doch auch wohl auf die Leibesgestalt zu sehen."
Ich auch, Papa, gab sie zur Antwort; aber Wilhelm gefällt mir so, wie er ist; hätte er nun gerade Füße, so wäre er Wilhelm Stilling nicht, und wie würde ich ihn denn lieb haben können?
Der Pastor lächelte zufrieden und fuhr fort: Du wirst nun diesen Abend auch die Küche bestellen müssen, denn der Bräu- tigam muß mit dir essen. Ich hab' nichts, sagte die unschul- dige Braut, als ein wenig Milch, Käse und Brod: wer weiß aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden ist? Ja, versetzte Wilhelm, ein Stück trocken Brod mit auch zu essen, ist an-
Stilling's Schriften. I. Bd. 3
ſich wegzwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden. Mein Dortchen hat mir geſtern Abend herausgeſtammelt, daß es euch lieb habe; ich bin aber arm; was ſagen eure Eltern? Sie ſind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wil- helm. Dortchen drangen Thraͤnen aus ihren hellen Augen, und der alte ehrwuͤrdige Mann ſtand auf, nahm ſeiner Toch- ter rechte Hand, gab ſie Wilhelmen und ſagte: Ich habe nichts in der Welt, als zwo Toͤchter; dieſe iſt mein Aug- apfel; nimm ſie, Sohn! nimm ſie! — Er weinte — „der Se- gen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch geſegnet vor ihm und ſeinen Heiligen und geſegnet vor der Welt! Eure Kinder muͤſſen wahre Chriſten werden, eure Nachkommen ſeyen groß! Sie muͤſſen angeſchrieben ſtehen im Buche des Lebens! Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwach- heiten, aber ohne Anſtoß hab’ ich gewandelt und alle Men- ſchen geliebt; dieß ſey auch eure Richtſchnur, ſo werden meine Gebeine in Frieden ruhen!“ Er wiſchte ſich hier die Augen. Beide Verlobten kuͤßten ihm Haͤnde, Backen und Mund, und hernach auch ſich ſelbſt zum Erſtenmale, und ſo ſaßen ſie wie- der nieder. Der alte Herr fing hierauf an: Aber Dortchen, dein Braͤutigam hat gebrechliche Fuͤße, haſt du das noch nicht geſehen? Ja, Papa, ſagte ſie, ich hab’s geſehen; aber er re- det immer ſo gut und ſo fromm mit mir, daß ich ſelten Acht auf ſeine Fuͤße gebe.
„Gut, Dortchen, die Maͤdchen pflegen doch auch wohl auf die Leibesgeſtalt zu ſehen.“
Ich auch, Papa, gab ſie zur Antwort; aber Wilhelm gefaͤllt mir ſo, wie er iſt; haͤtte er nun gerade Fuͤße, ſo waͤre er Wilhelm Stilling nicht, und wie wuͤrde ich ihn denn lieb haben koͤnnen?
Der Paſtor laͤchelte zufrieden und fuhr fort: Du wirſt nun dieſen Abend auch die Kuͤche beſtellen muͤſſen, denn der Braͤu- tigam muß mit dir eſſen. Ich hab’ nichts, ſagte die unſchul- dige Braut, als ein wenig Milch, Kaͤſe und Brod: wer weiß aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden iſt? Ja, verſetzte Wilhelm, ein Stuͤck trocken Brod mit auch zu eſſen, iſt an-
Stilling’s Schriften. I. Bd. 3
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ſich wegzwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden.
Mein Dortchen hat mir geſtern Abend herausgeſtammelt, daß
es euch lieb habe; ich bin aber arm; was ſagen eure Eltern?
Sie ſind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wil-
helm. Dortchen drangen Thraͤnen aus ihren hellen Augen,
und der alte ehrwuͤrdige Mann ſtand auf, nahm ſeiner Toch-
ter rechte Hand, gab ſie Wilhelmen und ſagte: Ich habe
nichts in der Welt, als zwo Toͤchter; dieſe iſt mein Aug-
apfel; nimm ſie, Sohn! nimm ſie! — Er weinte — „der Se-
gen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch geſegnet
vor ihm und ſeinen Heiligen und geſegnet vor der Welt! Eure
Kinder muͤſſen wahre Chriſten werden, eure Nachkommen ſeyen
groß! Sie muͤſſen angeſchrieben ſtehen im Buche des Lebens!
Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwach-
heiten, aber ohne Anſtoß hab’ ich gewandelt und alle Men-
ſchen geliebt; dieß ſey auch eure Richtſchnur, ſo werden meine
Gebeine in Frieden ruhen!“ Er wiſchte ſich hier die Augen.
Beide Verlobten kuͤßten ihm Haͤnde, Backen und Mund, und
hernach auch ſich ſelbſt zum Erſtenmale, und ſo ſaßen ſie wie-
der nieder. Der alte Herr fing hierauf an: Aber Dortchen,
dein Braͤutigam hat gebrechliche Fuͤße, haſt du das noch nicht
geſehen? Ja, Papa, ſagte ſie, ich hab’s geſehen; aber er re-
det immer ſo gut und ſo fromm mit mir, daß ich ſelten Acht
auf ſeine Fuͤße gebe.
„Gut, Dortchen, die Maͤdchen pflegen doch auch wohl auf
die Leibesgeſtalt zu ſehen.“
Ich auch, Papa, gab ſie zur Antwort; aber Wilhelm
gefaͤllt mir ſo, wie er iſt; haͤtte er nun gerade Fuͤße, ſo waͤre
er Wilhelm Stilling nicht, und wie wuͤrde ich ihn denn
lieb haben koͤnnen?
Der Paſtor laͤchelte zufrieden und fuhr fort: Du wirſt nun
dieſen Abend auch die Kuͤche beſtellen muͤſſen, denn der Braͤu-
tigam muß mit dir eſſen. Ich hab’ nichts, ſagte die unſchul-
dige Braut, als ein wenig Milch, Kaͤſe und Brod: wer weiß
aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden iſt? Ja, verſetzte
Wilhelm, ein Stuͤck trocken Brod mit auch zu eſſen, iſt an-
Stilling’s Schriften. I. Bd. 3
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/41>, abgerufen am 21.11.2024.
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