Jahr lang Güter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand- lung in allen ihren Theilen gründlich begriffen und alles aus- geübt; und damit es ihm auch sogar an den Grund- und Hülfs-Wissenschaften nicht fehlen möchte, so hatte ihn die Vorsehung sehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei- tet, weil da Physik, Chemie, Naturgeschichte u. dergl. unent- behrlich sind; und wirklich hatte er auch diese Wissenschaften, und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe besser durchgearbeitet, als alles Andere; sogar in Straßburg schon ein Collegium über die Chemie gelesen; auch die Vieharznei- kunde war ihm, als praktischer Arzt, leicht. Endlich hatte er sich in Schönenthal mit allen Arten von Fabriken be- kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderstehlicher Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken- nen zu lernen, ohne zu wissen, warum? Im Collegienlesen hatte er sich über das alles bis daher ununterbrochen geübt, und jetzt ist es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von welcher ich, ohne mich lächerlich zu machen, bis daher nichts sagen konnte, die aber äußerst wichtig ist: Stilling war von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geschichte gewesen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte also von Regierungssachen gute Kenntnisse gesammelt. Dazu kamen noch Romane von allerlei Gattung, und vorzüglich politische, wodurch sich in seiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand entdeckte, weil er sich desselben schämte; Lust zu regieren, über- schwenglicher Hunger, Menschen zu beglücken, war's, was ihn drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktischer Arzt zu können, aber nichts in diesem Fach genügte ihm. Morgen- thau's Geschichte war aus dieser Quelle geflossen. Jetzt denke man sich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die mindeste Hoffnung, je Staatsämter bedienen zu können, und dann jenen leidenschaftlichen Hunger. Aber jetzt -- jetzt schmolz diese Masse von Unregelmäßigkeit in den Strom sei- ner künftigen Bestimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte auch ja nicht selbst Regent seyn, rief er aus, als er allein war, aber Regenten- und Fürstendiener, Volksbeglücker bilden, das war's und ich wußte es nicht. Wie ein Sünder die Ver-
Jahr lang Guͤter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand- lung in allen ihren Theilen gruͤndlich begriffen und alles aus- geuͤbt; und damit es ihm auch ſogar an den Grund- und Huͤlfs-Wiſſenſchaften nicht fehlen moͤchte, ſo hatte ihn die Vorſehung ſehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei- tet, weil da Phyſik, Chemie, Naturgeſchichte u. dergl. unent- behrlich ſind; und wirklich hatte er auch dieſe Wiſſenſchaften, und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe beſſer durchgearbeitet, als alles Andere; ſogar in Straßburg ſchon ein Collegium uͤber die Chemie geleſen; auch die Vieharznei- kunde war ihm, als praktiſcher Arzt, leicht. Endlich hatte er ſich in Schoͤnenthal mit allen Arten von Fabriken be- kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderſtehlicher Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken- nen zu lernen, ohne zu wiſſen, warum? Im Collegienleſen hatte er ſich uͤber das alles bis daher ununterbrochen geuͤbt, und jetzt iſt es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von welcher ich, ohne mich laͤcherlich zu machen, bis daher nichts ſagen konnte, die aber aͤußerſt wichtig iſt: Stilling war von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geſchichte geweſen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte alſo von Regierungsſachen gute Kenntniſſe geſammelt. Dazu kamen noch Romane von allerlei Gattung, und vorzuͤglich politiſche, wodurch ſich in ſeiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand entdeckte, weil er ſich deſſelben ſchaͤmte; Luſt zu regieren, uͤber- ſchwenglicher Hunger, Menſchen zu begluͤcken, war’s, was ihn drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktiſcher Arzt zu koͤnnen, aber nichts in dieſem Fach genuͤgte ihm. Morgen- thau’s Geſchichte war aus dieſer Quelle gefloſſen. Jetzt denke man ſich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die mindeſte Hoffnung, je Staatsaͤmter bedienen zu koͤnnen, und dann jenen leidenſchaftlichen Hunger. Aber jetzt — jetzt ſchmolz dieſe Maſſe von Unregelmaͤßigkeit in den Strom ſei- ner kuͤnftigen Beſtimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte auch ja nicht ſelbſt Regent ſeyn, rief er aus, als er allein war, aber Regenten- und Fuͤrſtendiener, Volksbegluͤcker bilden, das war’s und ich wußte es nicht. Wie ein Suͤnder die Ver-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0363"n="355"/>
Jahr lang Guͤter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand-<lb/>
lung in allen ihren Theilen gruͤndlich begriffen und <hirendition="#g">alles</hi> aus-<lb/>
geuͤbt; und damit es ihm auch ſogar an den Grund- und<lb/>
Huͤlfs-Wiſſenſchaften nicht fehlen moͤchte, ſo hatte ihn die<lb/>
Vorſehung ſehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei-<lb/>
tet, weil da Phyſik, Chemie, Naturgeſchichte u. dergl. unent-<lb/>
behrlich ſind; und wirklich hatte er auch dieſe Wiſſenſchaften,<lb/>
und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe beſſer<lb/>
durchgearbeitet, als alles Andere; ſogar in <hirendition="#g">Straßburg</hi>ſchon<lb/>
ein Collegium uͤber die Chemie geleſen; auch die Vieharznei-<lb/>
kunde war ihm, als praktiſcher Arzt, leicht. Endlich hatte<lb/>
er ſich in <hirendition="#g">Schoͤnenthal</hi> mit allen Arten von Fabriken be-<lb/>
kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderſtehlicher<lb/>
Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken-<lb/>
nen zu lernen, ohne zu wiſſen, warum? Im Collegienleſen<lb/>
hatte er ſich uͤber das alles bis daher ununterbrochen geuͤbt,<lb/>
und jetzt iſt es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von<lb/>
welcher ich, ohne mich laͤcherlich zu machen, bis daher nichts<lb/>ſagen konnte, die aber aͤußerſt wichtig iſt: <hirendition="#g">Stilling</hi> war<lb/>
von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geſchichte<lb/>
geweſen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte alſo von<lb/>
Regierungsſachen gute Kenntniſſe geſammelt. Dazu kamen<lb/>
noch Romane von allerlei Gattung, und vorzuͤglich politiſche,<lb/>
wodurch ſich in ſeiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand<lb/>
entdeckte, weil er ſich deſſelben ſchaͤmte; Luſt zu regieren, uͤber-<lb/>ſchwenglicher Hunger, Menſchen zu begluͤcken, war’s, was ihn<lb/>
drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktiſcher Arzt zu<lb/>
koͤnnen, aber nichts in dieſem Fach genuͤgte ihm. <hirendition="#g">Morgen-<lb/>
thau’s</hi> Geſchichte war aus dieſer Quelle gefloſſen. Jetzt denke<lb/>
man ſich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die<lb/>
mindeſte Hoffnung, je Staatsaͤmter bedienen zu koͤnnen, und<lb/>
dann jenen leidenſchaftlichen Hunger. Aber jetzt — jetzt<lb/>ſchmolz dieſe Maſſe von Unregelmaͤßigkeit in den Strom ſei-<lb/>
ner kuͤnftigen Beſtimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte<lb/>
auch ja nicht ſelbſt Regent ſeyn, rief er aus, als er allein<lb/>
war, aber Regenten- und Fuͤrſtendiener, Volksbegluͤcker <hirendition="#g">bilden</hi>,<lb/>
das war’s und ich wußte es nicht. Wie ein Suͤnder die Ver-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[355/0363]
Jahr lang Guͤter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand-
lung in allen ihren Theilen gruͤndlich begriffen und alles aus-
geuͤbt; und damit es ihm auch ſogar an den Grund- und
Huͤlfs-Wiſſenſchaften nicht fehlen moͤchte, ſo hatte ihn die
Vorſehung ſehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei-
tet, weil da Phyſik, Chemie, Naturgeſchichte u. dergl. unent-
behrlich ſind; und wirklich hatte er auch dieſe Wiſſenſchaften,
und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe beſſer
durchgearbeitet, als alles Andere; ſogar in Straßburg ſchon
ein Collegium uͤber die Chemie geleſen; auch die Vieharznei-
kunde war ihm, als praktiſcher Arzt, leicht. Endlich hatte
er ſich in Schoͤnenthal mit allen Arten von Fabriken be-
kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderſtehlicher
Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken-
nen zu lernen, ohne zu wiſſen, warum? Im Collegienleſen
hatte er ſich uͤber das alles bis daher ununterbrochen geuͤbt,
und jetzt iſt es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von
welcher ich, ohne mich laͤcherlich zu machen, bis daher nichts
ſagen konnte, die aber aͤußerſt wichtig iſt: Stilling war
von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geſchichte
geweſen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte alſo von
Regierungsſachen gute Kenntniſſe geſammelt. Dazu kamen
noch Romane von allerlei Gattung, und vorzuͤglich politiſche,
wodurch ſich in ſeiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand
entdeckte, weil er ſich deſſelben ſchaͤmte; Luſt zu regieren, uͤber-
ſchwenglicher Hunger, Menſchen zu begluͤcken, war’s, was ihn
drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktiſcher Arzt zu
koͤnnen, aber nichts in dieſem Fach genuͤgte ihm. Morgen-
thau’s Geſchichte war aus dieſer Quelle gefloſſen. Jetzt denke
man ſich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die
mindeſte Hoffnung, je Staatsaͤmter bedienen zu koͤnnen, und
dann jenen leidenſchaftlichen Hunger. Aber jetzt — jetzt
ſchmolz dieſe Maſſe von Unregelmaͤßigkeit in den Strom ſei-
ner kuͤnftigen Beſtimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte
auch ja nicht ſelbſt Regent ſeyn, rief er aus, als er allein
war, aber Regenten- und Fuͤrſtendiener, Volksbegluͤcker bilden,
das war’s und ich wußte es nicht. Wie ein Suͤnder die Ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/363>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.