ruf, kein Mittel, Geld zu verdienen, und dazu hatte er we- der Geschicklichkeit, noch Anlage, vielweniger Lust; an Kennt- nissen fehlte es ihm nicht, aber wohl an der Kunst, sie anzu- wenden. Auf unaufhörliche Vermuthungen -- und wo hat der Arzt, wenn er nicht Wundarzt ist, sichere Gründe? die Heilung der Krankheiten, Leben und Tod der Men- schen, man bedenke, was das sagen will! gründen zu müs- sen, das war Stillings Sache nicht, er war also zu nichts weniger geschickt, als zum praktischen Arzt, und doch war er nichts anders, er wußte keine andere Nahrungsquelle, zugleich hatte ihn auch die Vorsehung zu diesem Beruf geleitet -- welch ein Kontrast -- welcher Widerspruch -- welch eine Prüfung der Glaubens- und Vertrauens-Beständigkeit! und nun denke man sich ein Publikum dazu, unter welchem und von welchem er leben mußte, und das so gegen ihn verfuhr!
Die Staarkuren dauerten zwar mit vorzüglichem Glück fort, allein die mehresten Patienten waren arm, selten konnte ihm einer Etwas bezahlen, und wenn zuweilen ein Wohlhabender kam, so mißlang sie gewöhnlich.
Aber war vielleicht in Stillings Lebensart und Betragen Etwas, das ihn so heruntersetzte? -- oder war er wirklich kein Haushalter, oder gar ein Verschwender? -- hierauf will ich unpartheiisch und nach der Wahrheit antworten: Stil- lings ganzes Leben war offen und frei, jetzt aber überall mit Schwermuth vermischt, nichts war an ihm, das Jemand be- leidigen konnte, als seine Offenherzigkeit, vermöge er vieles aus seinem Herzen fließen ließ, das er wohl hätte verschweigen können, woher er denn bei seinen Berufsverwandten und Kolle- gen als ruhmsüchtig, emporstrebend, und ihnen den Rang ab- laufend, angesehen wurde; im Grunde aber war dieser Zug in seiner Seele nicht. Was ihm sonst am meisten Leiden ver- ursacht hatte, war ein hoher Grad von Leichtsinn, er wog nicht immer die Folgen ab, was er sagte oder that, mit Ei- nem Wort, er hatte einen gewissen Anstrich von Etourderie oder Unbedachtsamkeit, und diese Unart war es eben, welche die väterliche Vorsehung durch die langwierige Läuterung aus seinem Charakter wegbannen wollte. Was seine Sparsamkeit
ruf, kein Mittel, Geld zu verdienen, und dazu hatte er we- der Geſchicklichkeit, noch Anlage, vielweniger Luſt; an Kennt- niſſen fehlte es ihm nicht, aber wohl an der Kunſt, ſie anzu- wenden. Auf unaufhoͤrliche Vermuthungen — und wo hat der Arzt, wenn er nicht Wundarzt iſt, ſichere Gruͤnde? die Heilung der Krankheiten, Leben und Tod der Men- ſchen, man bedenke, was das ſagen will! gruͤnden zu muͤſ- ſen, das war Stillings Sache nicht, er war alſo zu nichts weniger geſchickt, als zum praktiſchen Arzt, und doch war er nichts anders, er wußte keine andere Nahrungsquelle, zugleich hatte ihn auch die Vorſehung zu dieſem Beruf geleitet — welch ein Kontraſt — welcher Widerſpruch — welch eine Pruͤfung der Glaubens- und Vertrauens-Beſtaͤndigkeit! und nun denke man ſich ein Publikum dazu, unter welchem und von welchem er leben mußte, und das ſo gegen ihn verfuhr!
Die Staarkuren dauerten zwar mit vorzuͤglichem Gluͤck fort, allein die mehreſten Patienten waren arm, ſelten konnte ihm einer Etwas bezahlen, und wenn zuweilen ein Wohlhabender kam, ſo mißlang ſie gewoͤhnlich.
Aber war vielleicht in Stillings Lebensart und Betragen Etwas, das ihn ſo herunterſetzte? — oder war er wirklich kein Haushalter, oder gar ein Verſchwender? — hierauf will ich unpartheiiſch und nach der Wahrheit antworten: Stil- lings ganzes Leben war offen und frei, jetzt aber uͤberall mit Schwermuth vermiſcht, nichts war an ihm, das Jemand be- leidigen konnte, als ſeine Offenherzigkeit, vermoͤge er vieles aus ſeinem Herzen fließen ließ, das er wohl haͤtte verſchweigen koͤnnen, woher er denn bei ſeinen Berufsverwandten und Kolle- gen als ruhmſuͤchtig, emporſtrebend, und ihnen den Rang ab- laufend, angeſehen wurde; im Grunde aber war dieſer Zug in ſeiner Seele nicht. Was ihm ſonſt am meiſten Leiden ver- urſacht hatte, war ein hoher Grad von Leichtſinn, er wog nicht immer die Folgen ab, was er ſagte oder that, mit Ei- nem Wort, er hatte einen gewiſſen Anſtrich von Etourderie oder Unbedachtſamkeit, und dieſe Unart war es eben, welche die vaͤterliche Vorſehung durch die langwierige Laͤuterung aus ſeinem Charakter wegbannen wollte. Was ſeine Sparſamkeit
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ruf, kein Mittel, Geld zu verdienen, und dazu hatte er we-
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wenden. Auf unaufhoͤrliche Vermuthungen — und wo
hat der Arzt, wenn er nicht Wundarzt iſt, ſichere Gruͤnde?
die Heilung der Krankheiten, Leben und Tod der Men-
ſchen, man bedenke, was das ſagen will! gruͤnden zu muͤſ-
ſen, das war Stillings Sache nicht, er war alſo zu nichts
weniger geſchickt, als zum praktiſchen Arzt, und doch war er
nichts anders, er wußte keine andere Nahrungsquelle, zugleich
hatte ihn auch die Vorſehung zu dieſem Beruf geleitet —
welch ein Kontraſt — welcher Widerſpruch — welch eine
Pruͤfung der Glaubens- und Vertrauens-Beſtaͤndigkeit! und
nun denke man ſich ein Publikum dazu, unter welchem und
von welchem er leben mußte, und das ſo gegen ihn verfuhr!
Die Staarkuren dauerten zwar mit vorzuͤglichem Gluͤck fort,
allein die mehreſten Patienten waren arm, ſelten konnte ihm
einer Etwas bezahlen, und wenn zuweilen ein Wohlhabender
kam, ſo mißlang ſie gewoͤhnlich.
Aber war vielleicht in Stillings Lebensart und Betragen
Etwas, das ihn ſo herunterſetzte? — oder war er wirklich
kein Haushalter, oder gar ein Verſchwender? — hierauf will
ich unpartheiiſch und nach der Wahrheit antworten: Stil-
lings ganzes Leben war offen und frei, jetzt aber uͤberall mit
Schwermuth vermiſcht, nichts war an ihm, das Jemand be-
leidigen konnte, als ſeine Offenherzigkeit, vermoͤge er vieles aus
ſeinem Herzen fließen ließ, das er wohl haͤtte verſchweigen
koͤnnen, woher er denn bei ſeinen Berufsverwandten und Kolle-
gen als ruhmſuͤchtig, emporſtrebend, und ihnen den Rang ab-
laufend, angeſehen wurde; im Grunde aber war dieſer Zug
in ſeiner Seele nicht. Was ihm ſonſt am meiſten Leiden ver-
urſacht hatte, war ein hoher Grad von Leichtſinn, er wog
nicht immer die Folgen ab, was er ſagte oder that, mit Ei-
nem Wort, er hatte einen gewiſſen Anſtrich von Etourderie
oder Unbedachtſamkeit, und dieſe Unart war es eben, welche
die vaͤterliche Vorſehung durch die langwierige Laͤuterung aus
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/359>, abgerufen am 24.11.2024.
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