einem Worte: Stillings Praxis wurde sehr klein, man fing an, ihn zu vergessen, seine Schulden wuchsen, denn die tausend Gulden reichten zu ihrer Tilgung nicht zu, folglich wurde sein Jammer unermeßlich. Er verbarg ihn zwar vor aller Welt, so viel er konnte, desto schwerer wurde er ihm aber zu tragen; so- gar die Friedenbergische Familie fing an, kalt zu werden; denn sein eigener Schwiegervater begann zu glauben, er müsse wohl kein guter Haushalter seyn; er mußte manche ernstliche Ermah- nung hören, und öfters wurde ihm zu Gemüthe geführt, daß das Kapital von fünfzehn hundert Thalern, womit er studirt, Instrumente und die nöthigen Bücher nebst dem dringendsten Hausrath angeschafft, und wofür Herr Friedenberg Bürge geworden war, nun bald bezahlt werden müßte; dazu wußte aber Stilling nicht den entferntesten Weg; es kränkte ihn tief in der Seele, daß der ihm sein Kind gab, als noch kein Be- ruf, vielweniger Brod da war, der mit ihm blindlings auf die Vorsehung getraut hatte, nun auch zu wanken anfing. Chri- stine empfand diese Veränderung ihres Vaters hoch, und be- gann daher einen Heldenmuth zu fassen, der Alles übertraf; das war aber auch nöthig, ohne diese ungewöhnliche Stärke hätte sie, als ein schwaches Weib, unterliegen müssen.
Dieser ganz verzweifelten Lage ungeachtet, fehlte es doch nie am Nöthigen, nie hatte Stilling Vorrath, aber wenn's da seyn mußte, so war es da; dieß stärkte nun ihr Beider Glau- ben, so daß sie doch das Leiden aushalten konnten.
Im Frühjahr 1775 gebar Christine wieder einen Sohn, der aber nach vier Wochen starb; sie litte in diesem Kindbett ausserordentlich; an einem Morgen sahe sie Stilling in ei- nem tauben Hinbrüten da liegen, er erschrack und fragte sie, was ihre fehle? Sie antwortete, ich bin den Umständen nach gesund, aber ich habe einen erschrecklichen innern Kampf, laß mich in Ruhe, bis ich ausgekämpft habe; mit der größten Sorge erwartete er die Zeit der Aufklärung über diesen Punkt. Nach zwei traurigen Tagen rief sie ihn zu sich, sie fiel ihm um den Hals und sagte: "Lieber Mann! ich hab nun über- wunden, jetzt will ich dir Alles sagen: Siehe! ich kann keine Kinder mehr gebären, du als Arzt wirst es einsehen; indessen
einem Worte: Stillings Praxis wurde ſehr klein, man fing an, ihn zu vergeſſen, ſeine Schulden wuchſen, denn die tauſend Gulden reichten zu ihrer Tilgung nicht zu, folglich wurde ſein Jammer unermeßlich. Er verbarg ihn zwar vor aller Welt, ſo viel er konnte, deſto ſchwerer wurde er ihm aber zu tragen; ſo- gar die Friedenbergiſche Familie fing an, kalt zu werden; denn ſein eigener Schwiegervater begann zu glauben, er muͤſſe wohl kein guter Haushalter ſeyn; er mußte manche ernſtliche Ermah- nung hoͤren, und oͤfters wurde ihm zu Gemuͤthe gefuͤhrt, daß das Kapital von fuͤnfzehn hundert Thalern, womit er ſtudirt, Inſtrumente und die noͤthigen Buͤcher nebſt dem dringendſten Hausrath angeſchafft, und wofuͤr Herr Friedenberg Buͤrge geworden war, nun bald bezahlt werden muͤßte; dazu wußte aber Stilling nicht den entfernteſten Weg; es kraͤnkte ihn tief in der Seele, daß der ihm ſein Kind gab, als noch kein Be- ruf, vielweniger Brod da war, der mit ihm blindlings auf die Vorſehung getraut hatte, nun auch zu wanken anfing. Chri- ſtine empfand dieſe Veraͤnderung ihres Vaters hoch, und be- gann daher einen Heldenmuth zu faſſen, der Alles uͤbertraf; das war aber auch noͤthig, ohne dieſe ungewoͤhnliche Staͤrke haͤtte ſie, als ein ſchwaches Weib, unterliegen muͤſſen.
Dieſer ganz verzweifelten Lage ungeachtet, fehlte es doch nie am Noͤthigen, nie hatte Stilling Vorrath, aber wenn’s da ſeyn mußte, ſo war es da; dieß ſtaͤrkte nun ihr Beider Glau- ben, ſo daß ſie doch das Leiden aushalten konnten.
Im Fruͤhjahr 1775 gebar Chriſtine wieder einen Sohn, der aber nach vier Wochen ſtarb; ſie litte in dieſem Kindbett auſſerordentlich; an einem Morgen ſahe ſie Stilling in ei- nem tauben Hinbruͤten da liegen, er erſchrack und fragte ſie, was ihre fehle? Sie antwortete, ich bin den Umſtaͤnden nach geſund, aber ich habe einen erſchrecklichen innern Kampf, laß mich in Ruhe, bis ich ausgekaͤmpft habe; mit der groͤßten Sorge erwartete er die Zeit der Aufklaͤrung uͤber dieſen Punkt. Nach zwei traurigen Tagen rief ſie ihn zu ſich, ſie fiel ihm um den Hals und ſagte: „Lieber Mann! ich hab nun uͤber- wunden, jetzt will ich dir Alles ſagen: Siehe! ich kann keine Kinder mehr gebaͤren, du als Arzt wirſt es einſehen; indeſſen
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einem Worte: Stillings Praxis wurde ſehr klein, man fing
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Gulden reichten zu ihrer Tilgung nicht zu, folglich wurde ſein
Jammer unermeßlich. Er verbarg ihn zwar vor aller Welt, ſo
viel er konnte, deſto ſchwerer wurde er ihm aber zu tragen; ſo-
gar die Friedenbergiſche Familie fing an, kalt zu werden; denn
ſein eigener Schwiegervater begann zu glauben, er muͤſſe wohl
kein guter Haushalter ſeyn; er mußte manche ernſtliche Ermah-
nung hoͤren, und oͤfters wurde ihm zu Gemuͤthe gefuͤhrt, daß
das Kapital von fuͤnfzehn hundert Thalern, womit er ſtudirt,
Inſtrumente und die noͤthigen Buͤcher nebſt dem dringendſten
Hausrath angeſchafft, und wofuͤr Herr Friedenberg Buͤrge
geworden war, nun bald bezahlt werden muͤßte; dazu wußte
aber Stilling nicht den entfernteſten Weg; es kraͤnkte ihn
tief in der Seele, daß der ihm ſein Kind gab, als noch kein Be-
ruf, vielweniger Brod da war, der mit ihm blindlings auf die
Vorſehung getraut hatte, nun auch zu wanken anfing. Chri-
ſtine empfand dieſe Veraͤnderung ihres Vaters hoch, und be-
gann daher einen Heldenmuth zu faſſen, der Alles uͤbertraf; das
war aber auch noͤthig, ohne dieſe ungewoͤhnliche Staͤrke haͤtte
ſie, als ein ſchwaches Weib, unterliegen muͤſſen.
Dieſer ganz verzweifelten Lage ungeachtet, fehlte es doch nie
am Noͤthigen, nie hatte Stilling Vorrath, aber wenn’s da
ſeyn mußte, ſo war es da; dieß ſtaͤrkte nun ihr Beider Glau-
ben, ſo daß ſie doch das Leiden aushalten konnten.
Im Fruͤhjahr 1775 gebar Chriſtine wieder einen Sohn,
der aber nach vier Wochen ſtarb; ſie litte in dieſem Kindbett
auſſerordentlich; an einem Morgen ſahe ſie Stilling in ei-
nem tauben Hinbruͤten da liegen, er erſchrack und fragte ſie,
was ihre fehle? Sie antwortete, ich bin den Umſtaͤnden nach
geſund, aber ich habe einen erſchrecklichen innern Kampf, laß
mich in Ruhe, bis ich ausgekaͤmpft habe; mit der groͤßten
Sorge erwartete er die Zeit der Aufklaͤrung uͤber dieſen Punkt.
Nach zwei traurigen Tagen rief ſie ihn zu ſich, ſie fiel ihm
um den Hals und ſagte: „Lieber Mann! ich hab nun uͤber-
wunden, jetzt will ich dir Alles ſagen: Siehe! ich kann keine
Kinder mehr gebaͤren, du als Arzt wirſt es einſehen; indeſſen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/348>, abgerufen am 22.11.2024.
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