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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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allein er bezeugte eine sehr ungewöhnliche Angst für die Opera-
tion, so daß Stilling fürchtete, sie möchte unglückliche Fol-
gen für die Kur haben; er nahm daher andre Maaßregeln
und sagte: hört! ich will die Operation noch ein paar Tage
aufschieben, morgen aber muß ich die Augen etwas reiben
und aufklären, das thut nun nicht weh, hernach wollen wir
sehen, wie wir's machen: damit war der gute Mann sehr
zufrieden.

Den folgenden Morgen nahm er also den Wundarzt und
einige Freunde mit; der Jude war gutes Muths, setzte sich
und sperrte die Augen weit auf; Stilling nahm das Mes-
ser und operirte ihm Ein Auge; so wie die Staarlinse heraus
war, rief der Jude: Ich glaub, der Herr hat mich keopperirt?
-- O Gott! ich seh, ich seh Alles! -- Joel! Joel! (so hieß
sein Sohn) geh küß äm de Füß -- küß äm de Füß! Joel
schrie laut, fiel nieder und wollte küssen, allein es wurde
nicht gelitten.

Na! Na! fuhr der Jude fort: ich wollt, ich hätt Millio-
nen Aaga, vor ä halb Koppstück ließ ich mir immer ahns
apperire! Kurz, der Jude wurde vollkommen sehend, und als
er wegreiste, lief er mit ausgereckten Armen durch die Fahr-
gasse und über die Sachsenhäuser Brücke hin, und rief unauf-
hörlich: "O Ihr Leut, dankt Gott für mich, ich war blind
und bin sehend geworden! Gott laß den Doktor lange leben,
damit er noch vielen Blinden helfen könne!" Stilling ope-
rirte, außer dem Herrn von Leesner, noch sieben Personen,
und Alle wurden sehend, indessen konnte ihm Keiner etwas
zahlen, als der Herr Doktor Hut, der ihm seine Mühe reich-
lich belohnte.

Aber nun fing auf einmal Stillings schrecklichste Le-
bensperiode an, die über sieben Jahr ununterbrochen fortge-
dauert hat; der Herr von Leesner wurde, aller Mühe un-
geachtet, nicht sehend: seine Augen fingen an, sich zu entzün-
den und zu eitern, mehrere Aerzte unterstützten ihn, aber es
half Alles nichts. Schmerzen und Furcht vor unheilbarer
Blindheit schlugen alle Hoffnung darnieder.

Jetzt glaubte Stilling, er müßte vergehen, er rang mit

allein er bezeugte eine ſehr ungewoͤhnliche Angſt fuͤr die Opera-
tion, ſo daß Stilling fuͤrchtete, ſie moͤchte ungluͤckliche Fol-
gen fuͤr die Kur haben; er nahm daher andre Maaßregeln
und ſagte: hoͤrt! ich will die Operation noch ein paar Tage
aufſchieben, morgen aber muß ich die Augen etwas reiben
und aufklaͤren, das thut nun nicht weh, hernach wollen wir
ſehen, wie wir’s machen: damit war der gute Mann ſehr
zufrieden.

Den folgenden Morgen nahm er alſo den Wundarzt und
einige Freunde mit; der Jude war gutes Muths, ſetzte ſich
und ſperrte die Augen weit auf; Stilling nahm das Meſ-
ſer und operirte ihm Ein Auge; ſo wie die Staarlinſe heraus
war, rief der Jude: Ich glaub, der Herr hat mich keopperirt?
— O Gott! ich ſeh, ich ſeh Alles! — Joel! Joel! (ſo hieß
ſein Sohn) geh kuͤß aͤm de Fuͤß — kuͤß aͤm de Fuͤß! Joel
ſchrie laut, fiel nieder und wollte kuͤſſen, allein es wurde
nicht gelitten.

Na! Na! fuhr der Jude fort: ich wollt, ich haͤtt Millio-
nen Aaga, vor aͤ halb Koppſtuͤck ließ ich mir immer ahns
apperire! Kurz, der Jude wurde vollkommen ſehend, und als
er wegreiste, lief er mit ausgereckten Armen durch die Fahr-
gaſſe und uͤber die Sachſenhaͤuſer Bruͤcke hin, und rief unauf-
hoͤrlich: „O Ihr Leut, dankt Gott fuͤr mich, ich war blind
und bin ſehend geworden! Gott laß den Doktor lange leben,
damit er noch vielen Blinden helfen koͤnne!“ Stilling ope-
rirte, außer dem Herrn von Leesner, noch ſieben Perſonen,
und Alle wurden ſehend, indeſſen konnte ihm Keiner etwas
zahlen, als der Herr Doktor Hut, der ihm ſeine Muͤhe reich-
lich belohnte.

Aber nun fing auf einmal Stillings ſchrecklichſte Le-
bensperiode an, die uͤber ſieben Jahr ununterbrochen fortge-
dauert hat; der Herr von Leesner wurde, aller Muͤhe un-
geachtet, nicht ſehend: ſeine Augen fingen an, ſich zu entzuͤn-
den und zu eitern, mehrere Aerzte unterſtuͤtzten ihn, aber es
half Alles nichts. Schmerzen und Furcht vor unheilbarer
Blindheit ſchlugen alle Hoffnung darnieder.

Jetzt glaubte Stilling, er muͤßte vergehen, er rang mit

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[338/0346] allein er bezeugte eine ſehr ungewoͤhnliche Angſt fuͤr die Opera- tion, ſo daß Stilling fuͤrchtete, ſie moͤchte ungluͤckliche Fol- gen fuͤr die Kur haben; er nahm daher andre Maaßregeln und ſagte: hoͤrt! ich will die Operation noch ein paar Tage aufſchieben, morgen aber muß ich die Augen etwas reiben und aufklaͤren, das thut nun nicht weh, hernach wollen wir ſehen, wie wir’s machen: damit war der gute Mann ſehr zufrieden. Den folgenden Morgen nahm er alſo den Wundarzt und einige Freunde mit; der Jude war gutes Muths, ſetzte ſich und ſperrte die Augen weit auf; Stilling nahm das Meſ- ſer und operirte ihm Ein Auge; ſo wie die Staarlinſe heraus war, rief der Jude: Ich glaub, der Herr hat mich keopperirt? — O Gott! ich ſeh, ich ſeh Alles! — Joel! Joel! (ſo hieß ſein Sohn) geh kuͤß aͤm de Fuͤß — kuͤß aͤm de Fuͤß! Joel ſchrie laut, fiel nieder und wollte kuͤſſen, allein es wurde nicht gelitten. Na! Na! fuhr der Jude fort: ich wollt, ich haͤtt Millio- nen Aaga, vor aͤ halb Koppſtuͤck ließ ich mir immer ahns apperire! Kurz, der Jude wurde vollkommen ſehend, und als er wegreiste, lief er mit ausgereckten Armen durch die Fahr- gaſſe und uͤber die Sachſenhaͤuſer Bruͤcke hin, und rief unauf- hoͤrlich: „O Ihr Leut, dankt Gott fuͤr mich, ich war blind und bin ſehend geworden! Gott laß den Doktor lange leben, damit er noch vielen Blinden helfen koͤnne!“ Stilling ope- rirte, außer dem Herrn von Leesner, noch ſieben Perſonen, und Alle wurden ſehend, indeſſen konnte ihm Keiner etwas zahlen, als der Herr Doktor Hut, der ihm ſeine Muͤhe reich- lich belohnte. Aber nun fing auf einmal Stillings ſchrecklichſte Le- bensperiode an, die uͤber ſieben Jahr ununterbrochen fortge- dauert hat; der Herr von Leesner wurde, aller Muͤhe un- geachtet, nicht ſehend: ſeine Augen fingen an, ſich zu entzuͤn- den und zu eitern, mehrere Aerzte unterſtuͤtzten ihn, aber es half Alles nichts. Schmerzen und Furcht vor unheilbarer Blindheit ſchlugen alle Hoffnung darnieder. Jetzt glaubte Stilling, er muͤßte vergehen, er rang mit

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/346>, abgerufen am 10.06.2024.