so sehr herab, als er konnte; indessen half das alles nichts, Leesner blieb in seinem Vorsatz. Bauchs Verfahren konnte ihm im Grunde Niemand verdenken, denn er kannte Stil- lingen nicht anders, und seine Meinung, Leesnern für Unglück zu warnen, war nicht unedel.
Göthe, der sich noch immer bei seinen Eltern in Frank- furt aufhielt, freute sich innig, seinen Freund Stilling auf einige Zeit bei sich zu haben; seine Eltern boten ihm wäh- rend seines Aufenthalts ihren Tisch an, und mietheten ihm in ihrer Nachbarschaft ein hübsches Zimmer; dann ließ auch Göthe eine Nachricht in die Zeitung rücken, um damit meh- rere Nothleidende herbeizuholen. Und so wurde die ganze Sache regulirt und beschlossen. Stillings wenige Freunde freuten sich und hofften, Andere sorgten, und die mehresten wünschten, daß er doch zu Schanden werden möchte.
Im Anfang des 1775sten Jahres, in der ersten Woche des Januars, setzte sich also Stilling auf ein Lehnpferd, nahm einen Boten mit sich, und ritt an einem Nachmittag in dem schrecklichsten Regenwetter noch bis Waldstätt, hier blieb er über Nacht; den andern Tag schien der Himmel eine neue Sündfluth über die Erde führen zu wollen, alle Wasser und Bäche schwollen ungeheuer an, und Stilling gerieth mehr als Einmal in die äußerste Lebensgefahr, doch kam er glück- lich nach Meinerzhagen, wo er übernachtete; des dritten Morgens machte er sich wieder auf den Weg; der Himmel war nun ziemlich heiter, große Wolken flogen über seinem Haupte hin, doch schoß die Sonne auch zuweilen aus ihrem Laufe milde Strahlen in sein Angesicht; sonst ruhte die ganze Natur, alle Wälder und Gebüsche waren entblättert, eisgrau, Felder und Wiesen halb grün, Bäche rauschten, der Sturm- wind sauste aus Westen, und kein einziger Vogel belebte die Scenen.
Gegen Mittag kam er an ein einziges Wirthshaus, in ei- nem schönen ziemlich breiten Thale, welches im Rosenthal genannt wird; hier sahe er nun, als er die Höhe herab ritt, mit Erstaunen und Schrecken, daß der starke, mit einer ge- wölbten Brücke versehene Bach von einem Berg zum andern
ſo ſehr herab, als er konnte; indeſſen half das alles nichts, Leesner blieb in ſeinem Vorſatz. Bauchs Verfahren konnte ihm im Grunde Niemand verdenken, denn er kannte Stil- lingen nicht anders, und ſeine Meinung, Leesnern fuͤr Ungluͤck zu warnen, war nicht unedel.
Goͤthe, der ſich noch immer bei ſeinen Eltern in Frank- furt aufhielt, freute ſich innig, ſeinen Freund Stilling auf einige Zeit bei ſich zu haben; ſeine Eltern boten ihm waͤh- rend ſeines Aufenthalts ihren Tiſch an, und mietheten ihm in ihrer Nachbarſchaft ein huͤbſches Zimmer; dann ließ auch Goͤthe eine Nachricht in die Zeitung ruͤcken, um damit meh- rere Nothleidende herbeizuholen. Und ſo wurde die ganze Sache regulirt und beſchloſſen. Stillings wenige Freunde freuten ſich und hofften, Andere ſorgten, und die mehreſten wuͤnſchten, daß er doch zu Schanden werden moͤchte.
Im Anfang des 1775ſten Jahres, in der erſten Woche des Januars, ſetzte ſich alſo Stilling auf ein Lehnpferd, nahm einen Boten mit ſich, und ritt an einem Nachmittag in dem ſchrecklichſten Regenwetter noch bis Waldſtaͤtt, hier blieb er uͤber Nacht; den andern Tag ſchien der Himmel eine neue Suͤndfluth uͤber die Erde fuͤhren zu wollen, alle Waſſer und Baͤche ſchwollen ungeheuer an, und Stilling gerieth mehr als Einmal in die aͤußerſte Lebensgefahr, doch kam er gluͤck- lich nach Meinerzhagen, wo er uͤbernachtete; des dritten Morgens machte er ſich wieder auf den Weg; der Himmel war nun ziemlich heiter, große Wolken flogen uͤber ſeinem Haupte hin, doch ſchoß die Sonne auch zuweilen aus ihrem Laufe milde Strahlen in ſein Angeſicht; ſonſt ruhte die ganze Natur, alle Waͤlder und Gebuͤſche waren entblaͤttert, eisgrau, Felder und Wieſen halb gruͤn, Baͤche rauſchten, der Sturm- wind ſauste aus Weſten, und kein einziger Vogel belebte die Scenen.
Gegen Mittag kam er an ein einziges Wirthshaus, in ei- nem ſchoͤnen ziemlich breiten Thale, welches im Roſenthal genannt wird; hier ſahe er nun, als er die Hoͤhe herab ritt, mit Erſtaunen und Schrecken, daß der ſtarke, mit einer ge- woͤlbten Bruͤcke verſehene Bach von einem Berg zum andern
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ſo ſehr herab, als er konnte; indeſſen half das alles nichts,
Leesner blieb in ſeinem Vorſatz. Bauchs Verfahren konnte
ihm im Grunde Niemand verdenken, denn er kannte Stil-
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Ungluͤck zu warnen, war nicht unedel.
Goͤthe, der ſich noch immer bei ſeinen Eltern in Frank-
furt aufhielt, freute ſich innig, ſeinen Freund Stilling auf
einige Zeit bei ſich zu haben; ſeine Eltern boten ihm waͤh-
rend ſeines Aufenthalts ihren Tiſch an, und mietheten ihm in
ihrer Nachbarſchaft ein huͤbſches Zimmer; dann ließ auch
Goͤthe eine Nachricht in die Zeitung ruͤcken, um damit meh-
rere Nothleidende herbeizuholen. Und ſo wurde die ganze Sache
regulirt und beſchloſſen. Stillings wenige Freunde freuten
ſich und hofften, Andere ſorgten, und die mehreſten wuͤnſchten,
daß er doch zu Schanden werden moͤchte.
Im Anfang des 1775ſten Jahres, in der erſten Woche des
Januars, ſetzte ſich alſo Stilling auf ein Lehnpferd, nahm
einen Boten mit ſich, und ritt an einem Nachmittag in dem
ſchrecklichſten Regenwetter noch bis Waldſtaͤtt, hier blieb er
uͤber Nacht; den andern Tag ſchien der Himmel eine neue
Suͤndfluth uͤber die Erde fuͤhren zu wollen, alle Waſſer und
Baͤche ſchwollen ungeheuer an, und Stilling gerieth mehr
als Einmal in die aͤußerſte Lebensgefahr, doch kam er gluͤck-
lich nach Meinerzhagen, wo er uͤbernachtete; des dritten
Morgens machte er ſich wieder auf den Weg; der Himmel
war nun ziemlich heiter, große Wolken flogen uͤber ſeinem
Haupte hin, doch ſchoß die Sonne auch zuweilen aus ihrem
Laufe milde Strahlen in ſein Angeſicht; ſonſt ruhte die ganze
Natur, alle Waͤlder und Gebuͤſche waren entblaͤttert, eisgrau,
Felder und Wieſen halb gruͤn, Baͤche rauſchten, der Sturm-
wind ſauste aus Weſten, und kein einziger Vogel belebte die
Scenen.
Gegen Mittag kam er an ein einziges Wirthshaus, in ei-
nem ſchoͤnen ziemlich breiten Thale, welches im Roſenthal
genannt wird; hier ſahe er nun, als er die Hoͤhe herab ritt,
mit Erſtaunen und Schrecken, daß der ſtarke, mit einer ge-
woͤlbten Bruͤcke verſehene Bach von einem Berg zum andern
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/337>, abgerufen am 22.11.2024.
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