aber man muß ihn gekannt haben; er schritt, mit dem Per- spektiv in der Hand, beständig im Lande der Schatten hin und her, und schaute hinüber in die Gegend der Lichtsgefilde, wenn die blendenden Strahlen ihm zuweilen das Auge trübten!
Auf ihn folgte Collenbusch, ein theologischer Arzt oder medicinischer Gottesgelehrter; sein Angesicht war so auffallend, wie je eins seyn kann -- ein Gesicht, das Lavaters gan- zes System erschütterte; es enthielt nichts Widriges, nichts Böses, aber auch von Allem nichts, auf welches er Seelen- größe baute; indessen strahlte aus seinen, durch die Kinderblat- tern verstellten Zügen eine geheime, stille Majestät hervor, die man nur erst nach und nach im Umgang entdeckte; seine mit dem schwarzen und grauen Staar kämpfenden Augen und sein immer offener, zwei Reihen schöner weißer Zähne zeigender Mund schienen die Wahrheit, Welträume weit herbeiziehen zu wollen, und seine höchst gefällige, einnehmende Sprache, ver- bunden mit einem hohen Grad von Artigkeit und Bescheidenheit, fesselten jedes Herz, das sich ihm näherte.
Jetzt folgte in der Reihe mein Juvenal: man denke sich ein kleines, junges, rundköpfigtes Männchen, den Kopf etwas nach einer Schulter gerichtet, mit schalkhaften hellen Augen und immer lächelnder Miene; er sprach nichts, sondern beob- achtete nur; seine ganze Atmosphäre war Kraft der Undurch- dringlichkeit, die Alles zurückhielt, was sich ihm nähern wollte.
Dann saß neben ihm ein junger edler Schönenthaler Kaufmann, ein Freund von Stilling, ein Mann voller Re- ligion ohne Pietismus, glühend von Wahrheitshunger, ein Mann, wie es Wenige gibt!
Nun folgte Stilling, er saß da mit tiefem, geheimem Kummer auf der Stirn, den jetzt die Umstände erhellten, er sprach hin und her, und suchte Jedem sein Herz zu zeigen, wie es war.
Dann schlossen noch einige unbedeutende, bloß die Lücke aus- füllende Gesichter den Kreis. Göthe aber konnte nicht sitzen, er tanzte um den Tisch her, machte Gesichter und zeigte allent- halben, nach seiner Art, wie königlich ihn der Zirkel von
Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 22
aber man muß ihn gekannt haben; er ſchritt, mit dem Per- ſpektiv in der Hand, beſtaͤndig im Lande der Schatten hin und her, und ſchaute hinuͤber in die Gegend der Lichtsgefilde, wenn die blendenden Strahlen ihm zuweilen das Auge truͤbten!
Auf ihn folgte Collenbuſch, ein theologiſcher Arzt oder mediciniſcher Gottesgelehrter; ſein Angeſicht war ſo auffallend, wie je eins ſeyn kann — ein Geſicht, das Lavaters gan- zes Syſtem erſchuͤtterte; es enthielt nichts Widriges, nichts Boͤſes, aber auch von Allem nichts, auf welches er Seelen- groͤße baute; indeſſen ſtrahlte aus ſeinen, durch die Kinderblat- tern verſtellten Zuͤgen eine geheime, ſtille Majeſtaͤt hervor, die man nur erſt nach und nach im Umgang entdeckte; ſeine mit dem ſchwarzen und grauen Staar kaͤmpfenden Augen und ſein immer offener, zwei Reihen ſchoͤner weißer Zaͤhne zeigender Mund ſchienen die Wahrheit, Weltraͤume weit herbeiziehen zu wollen, und ſeine hoͤchſt gefaͤllige, einnehmende Sprache, ver- bunden mit einem hohen Grad von Artigkeit und Beſcheidenheit, feſſelten jedes Herz, das ſich ihm naͤherte.
Jetzt folgte in der Reihe mein Juvenal: man denke ſich ein kleines, junges, rundkoͤpfigtes Maͤnnchen, den Kopf etwas nach einer Schulter gerichtet, mit ſchalkhaften hellen Augen und immer laͤchelnder Miene; er ſprach nichts, ſondern beob- achtete nur; ſeine ganze Atmosphaͤre war Kraft der Undurch- dringlichkeit, die Alles zuruͤckhielt, was ſich ihm naͤhern wollte.
Dann ſaß neben ihm ein junger edler Schoͤnenthaler Kaufmann, ein Freund von Stilling, ein Mann voller Re- ligion ohne Pietismus, gluͤhend von Wahrheitshunger, ein Mann, wie es Wenige gibt!
Nun folgte Stilling, er ſaß da mit tiefem, geheimem Kummer auf der Stirn, den jetzt die Umſtaͤnde erhellten, er ſprach hin und her, und ſuchte Jedem ſein Herz zu zeigen, wie es war.
Dann ſchloſſen noch einige unbedeutende, bloß die Luͤcke aus- fuͤllende Geſichter den Kreis. Goͤthe aber konnte nicht ſitzen, er tanzte um den Tiſch her, machte Geſichter und zeigte allent- halben, nach ſeiner Art, wie koͤniglich ihn der Zirkel von
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 22
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0333"n="325"/>
aber man muß ihn gekannt haben; er ſchritt, mit dem Per-<lb/>ſpektiv in der Hand, beſtaͤndig im Lande der Schatten hin und<lb/>
her, und ſchaute hinuͤber in die Gegend der Lichtsgefilde, wenn<lb/>
die blendenden Strahlen ihm zuweilen das Auge truͤbten!</p><lb/><p>Auf ihn folgte <hirendition="#g">Collenbuſch</hi>, ein theologiſcher Arzt oder<lb/>
mediciniſcher Gottesgelehrter; ſein Angeſicht war ſo auffallend,<lb/>
wie je eins ſeyn kann — ein Geſicht, das <hirendition="#g">Lavaters</hi> gan-<lb/>
zes Syſtem erſchuͤtterte; es enthielt nichts Widriges, nichts<lb/>
Boͤſes, aber auch von Allem nichts, auf welches er Seelen-<lb/>
groͤße baute; indeſſen ſtrahlte aus ſeinen, durch die Kinderblat-<lb/>
tern verſtellten Zuͤgen eine geheime, ſtille Majeſtaͤt hervor, die<lb/>
man nur erſt nach und nach im Umgang entdeckte; ſeine mit<lb/>
dem ſchwarzen und grauen Staar kaͤmpfenden Augen und ſein<lb/>
immer offener, zwei Reihen ſchoͤner weißer Zaͤhne zeigender<lb/>
Mund ſchienen die Wahrheit, Weltraͤume weit herbeiziehen zu<lb/>
wollen, und ſeine hoͤchſt gefaͤllige, einnehmende Sprache, ver-<lb/>
bunden mit einem hohen Grad von Artigkeit und Beſcheidenheit,<lb/>
feſſelten jedes Herz, das ſich ihm naͤherte.</p><lb/><p>Jetzt folgte in der Reihe mein <hirendition="#g">Juvenal</hi>: man denke ſich<lb/>
ein kleines, junges, rundkoͤpfigtes Maͤnnchen, den Kopf etwas<lb/>
nach einer Schulter gerichtet, mit ſchalkhaften hellen Augen<lb/>
und immer laͤchelnder Miene; er ſprach nichts, ſondern beob-<lb/>
achtete nur; ſeine ganze Atmosphaͤre war Kraft der Undurch-<lb/>
dringlichkeit, die Alles zuruͤckhielt, was ſich ihm naͤhern wollte.</p><lb/><p>Dann ſaß neben ihm ein junger edler <hirendition="#g">Schoͤnenthaler</hi><lb/>
Kaufmann, ein Freund von <hirendition="#g">Stilling</hi>, ein Mann voller Re-<lb/>
ligion <hirendition="#g">ohne</hi> Pietismus, gluͤhend von Wahrheitshunger, ein<lb/>
Mann, wie es Wenige gibt!</p><lb/><p>Nun folgte <hirendition="#g">Stilling</hi>, er ſaß da mit tiefem, geheimem<lb/>
Kummer auf der Stirn, den jetzt die Umſtaͤnde erhellten, er<lb/>ſprach hin und her, und ſuchte Jedem ſein Herz zu zeigen,<lb/>
wie es war.</p><lb/><p>Dann ſchloſſen noch einige unbedeutende, bloß die Luͤcke aus-<lb/>
fuͤllende Geſichter den Kreis. <hirendition="#g">Goͤthe</hi> aber konnte nicht ſitzen,<lb/>
er tanzte um den Tiſch her, machte Geſichter und zeigte allent-<lb/>
halben, nach ſeiner Art, wie koͤniglich ihn der Zirkel von<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Stillings ſämmtl. Schriften. <hirendition="#aq">I.</hi> Band. 22</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[325/0333]
aber man muß ihn gekannt haben; er ſchritt, mit dem Per-
ſpektiv in der Hand, beſtaͤndig im Lande der Schatten hin und
her, und ſchaute hinuͤber in die Gegend der Lichtsgefilde, wenn
die blendenden Strahlen ihm zuweilen das Auge truͤbten!
Auf ihn folgte Collenbuſch, ein theologiſcher Arzt oder
mediciniſcher Gottesgelehrter; ſein Angeſicht war ſo auffallend,
wie je eins ſeyn kann — ein Geſicht, das Lavaters gan-
zes Syſtem erſchuͤtterte; es enthielt nichts Widriges, nichts
Boͤſes, aber auch von Allem nichts, auf welches er Seelen-
groͤße baute; indeſſen ſtrahlte aus ſeinen, durch die Kinderblat-
tern verſtellten Zuͤgen eine geheime, ſtille Majeſtaͤt hervor, die
man nur erſt nach und nach im Umgang entdeckte; ſeine mit
dem ſchwarzen und grauen Staar kaͤmpfenden Augen und ſein
immer offener, zwei Reihen ſchoͤner weißer Zaͤhne zeigender
Mund ſchienen die Wahrheit, Weltraͤume weit herbeiziehen zu
wollen, und ſeine hoͤchſt gefaͤllige, einnehmende Sprache, ver-
bunden mit einem hohen Grad von Artigkeit und Beſcheidenheit,
feſſelten jedes Herz, das ſich ihm naͤherte.
Jetzt folgte in der Reihe mein Juvenal: man denke ſich
ein kleines, junges, rundkoͤpfigtes Maͤnnchen, den Kopf etwas
nach einer Schulter gerichtet, mit ſchalkhaften hellen Augen
und immer laͤchelnder Miene; er ſprach nichts, ſondern beob-
achtete nur; ſeine ganze Atmosphaͤre war Kraft der Undurch-
dringlichkeit, die Alles zuruͤckhielt, was ſich ihm naͤhern wollte.
Dann ſaß neben ihm ein junger edler Schoͤnenthaler
Kaufmann, ein Freund von Stilling, ein Mann voller Re-
ligion ohne Pietismus, gluͤhend von Wahrheitshunger, ein
Mann, wie es Wenige gibt!
Nun folgte Stilling, er ſaß da mit tiefem, geheimem
Kummer auf der Stirn, den jetzt die Umſtaͤnde erhellten, er
ſprach hin und her, und ſuchte Jedem ſein Herz zu zeigen,
wie es war.
Dann ſchloſſen noch einige unbedeutende, bloß die Luͤcke aus-
fuͤllende Geſichter den Kreis. Goͤthe aber konnte nicht ſitzen,
er tanzte um den Tiſch her, machte Geſichter und zeigte allent-
halben, nach ſeiner Art, wie koͤniglich ihn der Zirkel von
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 22
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/333>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.