hatte man ihm bis daher das Leben erhalten, außerdem aber durch keine Anwendung irgend einer Arznei etwas ausrichten können. Die Frau beschloß ihre weitläufige Erzählung mit dem Verdacht: Sollte das Kind auch wohl behext seyn?
Nein, antwortete Stilling, das Kind ist nicht behext, ich will kommen und es besehen. Die Frau weinte wieder und sagte: "Ach, Herr Doktor, thun Sie das doch!" und nun ging sie fort.
Doktor Stilling wanderte mit großen Schritten in sei- nem Zimmer auf und ab; lieber Gott! dachte er: wer kann da Anfang und Ende finden? -- daß man alle mögliche Mit- tel gebraucht hat, daran ist kein Zweifel, denn die Leute wa- ren wohlhabend, was bleibt mir Anfänger also übrig? In diesen schwermüthigen Gedanken nahm er Hut und Stock und reiste nach Dornfeld. Auf dem ganzen Wege betete er zu Gott um Licht und Segen und Kraft; das Kind fand er ge- rade so, wie es seine Mutter beschrieben hatte, die Augen wa- ren geschlossen, es holte ordentlich Athem und der rechte Arm fuhr im regelmäßigen Takt von der Brust gegen die rechte Seite immer hin und her; er setzte sich hin, besahe und be- trachtete, und fragte Alles aus, und bei dem Weggehen beor- derte er die Frau, sie möchte in einer Stunde nach Schö- nenthal zu ihm kommen, er wolle während der Zeit über den seltsamen Umstand nachdenken, und dann Etwas verord- nen. Auf dem Wege nach Hause dachte er hin und her, was er dem Kinde wohl Nützliches verordnen könnte; endlich fiel ihm ein, daß Herr Spielmann Dippels thierisches Oel als ein Mittel gegen die Zuckungen gerühmt hätte; dieß Medikament war ihm desto lieber, denn er glaubte sicher, daß es keiner von den Aerzten bisher würde gebraucht haben, weil es außer Mode gekommen sey; er blieb also dabei, und so- bald er nach Hause kam, verschrieb er ein Säftchen, von wel- chem jenes Oel die Basis war; die Frau kam und holte es ab. Kaum waren zwei Stunden verflossen, so kam ein Bote, welcher Stillingen schleunig zu seinem Patienten abrief. Er lief fort; so wie er zur Thür hereintrat, sah er
hatte man ihm bis daher das Leben erhalten, außerdem aber durch keine Anwendung irgend einer Arznei etwas ausrichten koͤnnen. Die Frau beſchloß ihre weitlaͤufige Erzaͤhlung mit dem Verdacht: Sollte das Kind auch wohl behext ſeyn?
Nein, antwortete Stilling, das Kind iſt nicht behext, ich will kommen und es beſehen. Die Frau weinte wieder und ſagte: „Ach, Herr Doktor, thun Sie das doch!“ und nun ging ſie fort.
Doktor Stilling wanderte mit großen Schritten in ſei- nem Zimmer auf und ab; lieber Gott! dachte er: wer kann da Anfang und Ende finden? — daß man alle moͤgliche Mit- tel gebraucht hat, daran iſt kein Zweifel, denn die Leute wa- ren wohlhabend, was bleibt mir Anfaͤnger alſo uͤbrig? In dieſen ſchwermuͤthigen Gedanken nahm er Hut und Stock und reiste nach Dornfeld. Auf dem ganzen Wege betete er zu Gott um Licht und Segen und Kraft; das Kind fand er ge- rade ſo, wie es ſeine Mutter beſchrieben hatte, die Augen wa- ren geſchloſſen, es holte ordentlich Athem und der rechte Arm fuhr im regelmaͤßigen Takt von der Bruſt gegen die rechte Seite immer hin und her; er ſetzte ſich hin, beſahe und be- trachtete, und fragte Alles aus, und bei dem Weggehen beor- derte er die Frau, ſie moͤchte in einer Stunde nach Schoͤ- nenthal zu ihm kommen, er wolle waͤhrend der Zeit uͤber den ſeltſamen Umſtand nachdenken, und dann Etwas verord- nen. Auf dem Wege nach Hauſe dachte er hin und her, was er dem Kinde wohl Nuͤtzliches verordnen koͤnnte; endlich fiel ihm ein, daß Herr Spielmann Dippels thieriſches Oel als ein Mittel gegen die Zuckungen geruͤhmt haͤtte; dieß Medikament war ihm deſto lieber, denn er glaubte ſicher, daß es keiner von den Aerzten bisher wuͤrde gebraucht haben, weil es außer Mode gekommen ſey; er blieb alſo dabei, und ſo- bald er nach Hauſe kam, verſchrieb er ein Saͤftchen, von wel- chem jenes Oel die Baſis war; die Frau kam und holte es ab. Kaum waren zwei Stunden verfloſſen, ſo kam ein Bote, welcher Stillingen ſchleunig zu ſeinem Patienten abrief. Er lief fort; ſo wie er zur Thuͤr hereintrat, ſah er
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0307"n="299"/>
hatte man ihm bis daher das Leben erhalten, außerdem aber<lb/>
durch keine Anwendung irgend einer Arznei etwas ausrichten<lb/>
koͤnnen. Die Frau beſchloß ihre weitlaͤufige Erzaͤhlung mit<lb/>
dem Verdacht: <hirendition="#g">Sollte das Kind auch wohl behext<lb/>ſeyn</hi>?</p><lb/><p>Nein, antwortete <hirendition="#g">Stilling</hi>, das Kind iſt nicht behext, ich<lb/>
will kommen und es beſehen. Die Frau weinte wieder und<lb/>ſagte: „Ach, Herr Doktor, thun Sie das doch!“ und nun<lb/>
ging ſie fort.</p><lb/><p>Doktor <hirendition="#g">Stilling</hi> wanderte mit großen Schritten in ſei-<lb/>
nem Zimmer auf und ab; lieber Gott! dachte er: wer kann<lb/>
da Anfang und Ende finden? — daß man alle moͤgliche Mit-<lb/>
tel gebraucht hat, daran iſt kein Zweifel, denn die Leute wa-<lb/>
ren wohlhabend, was bleibt mir Anfaͤnger alſo uͤbrig? In<lb/>
dieſen ſchwermuͤthigen Gedanken nahm er Hut und Stock und<lb/>
reiste nach <hirendition="#g">Dornfeld</hi>. Auf dem ganzen Wege betete er zu<lb/>
Gott um Licht und Segen und Kraft; das Kind fand er ge-<lb/>
rade ſo, wie es ſeine Mutter beſchrieben hatte, die Augen wa-<lb/>
ren geſchloſſen, es holte ordentlich Athem und der rechte Arm<lb/>
fuhr im regelmaͤßigen Takt von der Bruſt gegen die rechte<lb/>
Seite immer hin und her; er ſetzte ſich hin, beſahe und be-<lb/>
trachtete, und fragte Alles aus, und bei dem Weggehen beor-<lb/>
derte er die Frau, ſie moͤchte in einer Stunde nach <hirendition="#g">Schoͤ-<lb/>
nenthal</hi> zu ihm kommen, er wolle waͤhrend der Zeit uͤber<lb/>
den ſeltſamen Umſtand nachdenken, und dann Etwas verord-<lb/>
nen. Auf dem Wege nach Hauſe dachte er hin und her, was<lb/>
er dem Kinde wohl Nuͤtzliches verordnen koͤnnte; endlich fiel<lb/>
ihm ein, daß Herr <hirendition="#g">Spielmann Dippels thieriſches<lb/>
Oel</hi> als ein Mittel gegen die Zuckungen geruͤhmt haͤtte; dieß<lb/>
Medikament war ihm deſto lieber, denn er glaubte ſicher, daß<lb/>
es keiner von den Aerzten bisher wuͤrde gebraucht haben, weil<lb/>
es außer Mode gekommen ſey; er blieb alſo dabei, und ſo-<lb/>
bald er nach Hauſe kam, verſchrieb er ein Saͤftchen, von wel-<lb/>
chem jenes Oel die Baſis war; die Frau kam und holte<lb/>
es ab. Kaum waren zwei Stunden verfloſſen, ſo kam ein<lb/>
Bote, welcher <hirendition="#g">Stillingen</hi>ſchleunig zu ſeinem Patienten<lb/>
abrief. Er lief fort; ſo wie er zur Thuͤr hereintrat, ſah er<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[299/0307]
hatte man ihm bis daher das Leben erhalten, außerdem aber
durch keine Anwendung irgend einer Arznei etwas ausrichten
koͤnnen. Die Frau beſchloß ihre weitlaͤufige Erzaͤhlung mit
dem Verdacht: Sollte das Kind auch wohl behext
ſeyn?
Nein, antwortete Stilling, das Kind iſt nicht behext, ich
will kommen und es beſehen. Die Frau weinte wieder und
ſagte: „Ach, Herr Doktor, thun Sie das doch!“ und nun
ging ſie fort.
Doktor Stilling wanderte mit großen Schritten in ſei-
nem Zimmer auf und ab; lieber Gott! dachte er: wer kann
da Anfang und Ende finden? — daß man alle moͤgliche Mit-
tel gebraucht hat, daran iſt kein Zweifel, denn die Leute wa-
ren wohlhabend, was bleibt mir Anfaͤnger alſo uͤbrig? In
dieſen ſchwermuͤthigen Gedanken nahm er Hut und Stock und
reiste nach Dornfeld. Auf dem ganzen Wege betete er zu
Gott um Licht und Segen und Kraft; das Kind fand er ge-
rade ſo, wie es ſeine Mutter beſchrieben hatte, die Augen wa-
ren geſchloſſen, es holte ordentlich Athem und der rechte Arm
fuhr im regelmaͤßigen Takt von der Bruſt gegen die rechte
Seite immer hin und her; er ſetzte ſich hin, beſahe und be-
trachtete, und fragte Alles aus, und bei dem Weggehen beor-
derte er die Frau, ſie moͤchte in einer Stunde nach Schoͤ-
nenthal zu ihm kommen, er wolle waͤhrend der Zeit uͤber
den ſeltſamen Umſtand nachdenken, und dann Etwas verord-
nen. Auf dem Wege nach Hauſe dachte er hin und her, was
er dem Kinde wohl Nuͤtzliches verordnen koͤnnte; endlich fiel
ihm ein, daß Herr Spielmann Dippels thieriſches
Oel als ein Mittel gegen die Zuckungen geruͤhmt haͤtte; dieß
Medikament war ihm deſto lieber, denn er glaubte ſicher, daß
es keiner von den Aerzten bisher wuͤrde gebraucht haben, weil
es außer Mode gekommen ſey; er blieb alſo dabei, und ſo-
bald er nach Hauſe kam, verſchrieb er ein Saͤftchen, von wel-
chem jenes Oel die Baſis war; die Frau kam und holte
es ab. Kaum waren zwei Stunden verfloſſen, ſo kam ein
Bote, welcher Stillingen ſchleunig zu ſeinem Patienten
abrief. Er lief fort; ſo wie er zur Thuͤr hereintrat, ſah er
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/307>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.