der neunjährige Sohn jenes Theobalds, dessen Phantasie schon frühe durch mystische Schriften im höchsten Grade entzündet wurde, schon in diesem Alter Sünden der Ge- schlechtsliebe begehen und den abenteuerlichen Entschluß fassen und ausführen kann, diese sündhafte Welt zu ver- lassen und Einsiedler zu werden. Reichen Stoff und Nah- rung findet diese gesteigerte Phantasie in der Lehre vom tausendjährigen Reiche, dessen Nähe alle schwärmerischen Secten wähnen, und in dessen Ausmahlung in glänzenden sinnlichen Bildern sich stets ihre durch die Vernunft nicht geregelte Einbildungskraft ergeht, während die wahrhafte Frömmigkeit sich mit der Wirklichkeit befreundet und die verschiedenen Verhältnisse, in denen wir als Familien-, Standes- und Staatsgenossen leben, durchdringt, beseelt und verklärt. Endlich ist ein Durchweg in diesen Köpfen sprudelnde Hoffnung die Wiederbringung aller Dinge, d. h. die Lehre, daß Alles, daß namentlich sowohl böse als gute Menschen in Gott einst wieder zurückkehren werden. An sich ist es wahr, daß Gott das Alleine sey, das in allen Din- gen ist. Aber zugleich lehrt die Vernunft und das Christen- thum, daß eine ewige Verschiedenheit die Menschen, ja ein ewiger Gegensatz von Guten und Bösen Statt fin- den werde. Wir sagen, die Vernunft ist es, die dieß lehrt. Denn, weil der Mensch ein freies Wesen ist, und bei jedem ein eigenthümlicher Gebrauch dieses Willensvermögens Statt findet, so wird nie jene völlige Einheit aller in Gott zu Stande kommen. Ueber diese wirklichen Unterschiede der Menschen fliegt aber die Phantasie des Schwärmers hinweg; er versenkt sich mit seinem trüben Gefühle in jene dunkle und mystische Einheit aller Dinge, und je tiefer er sich in diesen Abgrund der endlichen vielgestalteten Welt im Geiste be- gibt, desto weniger fühlt er sich in der Gegenwart der ent- wickelten und mannigfaltigen Welt, die in Unterschiede von Charakteren, Ständen u. s. w. getheilt ist -- einheimisch, und so bildet und verstärkt sich in ihm immer mehr der Wi- derwille gegen die wirkliche Ordnung der Dinge, ein Wider- wille, welcher oft in halsstarrigen Ungehorsam gegen alle geistliche und weltliche Obrigkeit überschlagen kann. Daher
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der neunjährige Sohn jenes Theobalds, deſſen Phantaſie ſchon frühe durch myſtiſche Schriften im höchſten Grade entzündet wurde, ſchon in dieſem Alter Sünden der Ge- ſchlechtsliebe begehen und den abenteuerlichen Entſchluß faſſen und ausführen kann, dieſe ſündhafte Welt zu ver- laſſen und Einſiedler zu werden. Reichen Stoff und Nah- rung findet dieſe geſteigerte Phantaſie in der Lehre vom tauſendjährigen Reiche, deſſen Nähe alle ſchwärmeriſchen Secten wähnen, und in deſſen Ausmahlung in glänzenden ſinnlichen Bildern ſich ſtets ihre durch die Vernunft nicht geregelte Einbildungskraft ergeht, während die wahrhafte Frömmigkeit ſich mit der Wirklichkeit befreundet und die verſchiedenen Verhältniſſe, in denen wir als Familien-, Standes- und Staatsgenoſſen leben, durchdringt, beſeelt und verklärt. Endlich iſt ein Durchweg in dieſen Köpfen ſprudelnde Hoffnung die Wiederbringung aller Dinge, d. h. die Lehre, daß Alles, daß namentlich ſowohl böſe als gute Menſchen in Gott einſt wieder zurückkehren werden. An ſich iſt es wahr, daß Gott das Alleine ſey, das in allen Din- gen iſt. Aber zugleich lehrt die Vernunft und das Chriſten- thum, daß eine ewige Verſchiedenheit die Menſchen, ja ein ewiger Gegenſatz von Guten und Böſen Statt fin- den werde. Wir ſagen, die Vernunft iſt es, die dieß lehrt. Denn, weil der Menſch ein freies Weſen iſt, und bei jedem ein eigenthümlicher Gebrauch dieſes Willensvermögens Statt findet, ſo wird nie jene völlige Einheit aller in Gott zu Stande kommen. Ueber dieſe wirklichen Unterſchiede der Menſchen fliegt aber die Phantaſie des Schwärmers hinweg; er verſenkt ſich mit ſeinem trüben Gefühle in jene dunkle und myſtiſche Einheit aller Dinge, und je tiefer er ſich in dieſen Abgrund der endlichen vielgeſtalteten Welt im Geiſte be- gibt, deſto weniger fühlt er ſich in der Gegenwart der ent- wickelten und mannigfaltigen Welt, die in Unterſchiede von Charakteren, Ständen u. ſ. w. getheilt iſt — einheimiſch, und ſo bildet und verſtärkt ſich in ihm immer mehr der Wi- derwille gegen die wirkliche Ordnung der Dinge, ein Wider- wille, welcher oft in halsſtarrigen Ungehorſam gegen alle geiſtliche und weltliche Obrigkeit überſchlagen kann. Daher
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der neunjährige Sohn jenes Theobalds, deſſen Phantaſie
ſchon frühe durch myſtiſche Schriften im höchſten Grade
entzündet wurde, ſchon in dieſem Alter Sünden der Ge-
ſchlechtsliebe begehen und den abenteuerlichen Entſchluß
faſſen und ausführen kann, dieſe ſündhafte Welt zu ver-
laſſen und Einſiedler zu werden. Reichen Stoff und Nah-
rung findet dieſe geſteigerte Phantaſie in der Lehre vom
tauſendjährigen Reiche, deſſen Nähe alle ſchwärmeriſchen
Secten wähnen, und in deſſen Ausmahlung in glänzenden
ſinnlichen Bildern ſich ſtets ihre durch die Vernunft nicht
geregelte Einbildungskraft ergeht, während die wahrhafte
Frömmigkeit ſich mit der Wirklichkeit befreundet und die
verſchiedenen Verhältniſſe, in denen wir als Familien-,
Standes- und Staatsgenoſſen leben, durchdringt, beſeelt
und verklärt. Endlich iſt ein Durchweg in dieſen Köpfen
ſprudelnde Hoffnung die Wiederbringung aller Dinge, d. h.
die Lehre, daß Alles, daß namentlich ſowohl böſe als gute
Menſchen in Gott einſt wieder zurückkehren werden. An ſich
iſt es wahr, daß Gott das Alleine ſey, das in allen Din-
gen iſt. Aber zugleich lehrt die Vernunft und das Chriſten-
thum, daß eine ewige Verſchiedenheit die Menſchen, ja ein
ewiger Gegenſatz von Guten und Böſen Statt fin-
den werde. Wir ſagen, die Vernunft iſt es, die dieß lehrt.
Denn, weil der Menſch ein freies Weſen iſt, und bei jedem
ein eigenthümlicher Gebrauch dieſes Willensvermögens
Statt findet, ſo wird nie jene völlige Einheit aller in Gott
zu Stande kommen. Ueber dieſe wirklichen Unterſchiede der
Menſchen fliegt aber die Phantaſie des Schwärmers hinweg;
er verſenkt ſich mit ſeinem trüben Gefühle in jene dunkle und
myſtiſche Einheit aller Dinge, und je tiefer er ſich in dieſen
Abgrund der endlichen vielgeſtalteten Welt im Geiſte be-
gibt, deſto weniger fühlt er ſich in der Gegenwart der ent-
wickelten und mannigfaltigen Welt, die in Unterſchiede
von Charakteren, Ständen u. ſ. w. getheilt iſt — einheimiſch,
und ſo bildet und verſtärkt ſich in ihm immer mehr der Wi-
derwille gegen die wirkliche Ordnung der Dinge, ein Wider-
wille, welcher oft in halsſtarrigen Ungehorſam gegen alle
geiſtliche und weltliche Obrigkeit überſchlagen kann. Daher
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/27>, abgerufen am 21.11.2024.
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