trachtete ihn von Haupt bis zu Fuß. Ja! sagte sie sittsam und freundlich: mein Mann ist verlegen um einen Gesellen; wo seyd ihr her? Stilling antwortete: aus dem Salen- schen Lande! Die Frau heiterte sich ganz auf, und sagte: da ist mein Mann auch her, ich will ihn rufen lassen. Er war mit einem Gesellen und Lehrburschen in einem Haus in der Stadt in Arbeit; sie schickte eins von den Kindern und ließ ihn rufen. In ein paar Minuten kam Meister Isaac zur Thür herein; seine Frau sagte ihm, was sie wußte, und er fragte ferner, was er gern wissen wollte; der Meister nahm ihn willig an. Nun nöthigte ihn die Frau an den Tisch; und so war schon seine Speise bereitet gewesen, als er noch im Wald irre ging und nachdachte: Ob ihm auch Gott die- sen Mittag die nöthige Nahrung bescheeren würde.
Meister Isaac blieb da und speiste mit. Nach dem Essen nahm er ihn mit in die Arbeit, bei einen Schöffen, der sich Schauerhof schrieb; dieser war ein Brodbäcker, dabei ein hagerer langer Mann. So wie sich Meister Isaac und sein neuer Geselle gesetzt hatten, und anfingen zu arbeiten, kam auch der Schöffe mit seiner langen Pfeife, setzte sich zu den Schneidern, und fing mit Meister Isaac an zu reden, wo sie vermuthlich vorhin aufgehört hatten.
Ja! sagte der Schöffe: Ich stelle mir den Geist Christi als eine allenthalben gegenwärtige Kraft vor, die überall in den Herzen der Menschen wirke, um eine jede Seele in seine eigene Natur zu verwandeln; je ferner nun Jemand von Gott ist, je fremder ist ihm dieser Geist. Was denkst du davon, Bru- der Isaac?
Ich stelle mir die Sache ungefähr eben so vor, versetzte der Meister: es ist hauptsächlich um den Willen des Menschen zu thun, der Wille macht ihn fähig. --
Nun konnte sich Stilling nicht mehr halten; er fühlte, daß er bei frommen Leuten war, er fing ganz unvermuthet hinter dem Tisch an, laut zu weinen und zu rufen: O Gott, ich bin zu Haus! ich bin zu Haus! Alle Anwesende erstarrten, und entsetzten sich; sie wußten nicht, was ihm wiederfuhr. Meister Isaac sah ihn an und fragte: Wie ist's, Stilling? (er
trachtete ihn von Haupt bis zu Fuß. Ja! ſagte ſie ſittſam und freundlich: mein Mann iſt verlegen um einen Geſellen; wo ſeyd ihr her? Stilling antwortete: aus dem Salen- ſchen Lande! Die Frau heiterte ſich ganz auf, und ſagte: da iſt mein Mann auch her, ich will ihn rufen laſſen. Er war mit einem Geſellen und Lehrburſchen in einem Haus in der Stadt in Arbeit; ſie ſchickte eins von den Kindern und ließ ihn rufen. In ein paar Minuten kam Meiſter Iſaac zur Thuͤr herein; ſeine Frau ſagte ihm, was ſie wußte, und er fragte ferner, was er gern wiſſen wollte; der Meiſter nahm ihn willig an. Nun noͤthigte ihn die Frau an den Tiſch; und ſo war ſchon ſeine Speiſe bereitet geweſen, als er noch im Wald irre ging und nachdachte: Ob ihm auch Gott die- ſen Mittag die noͤthige Nahrung beſcheeren wuͤrde.
Meiſter Iſaac blieb da und ſpeiste mit. Nach dem Eſſen nahm er ihn mit in die Arbeit, bei einen Schoͤffen, der ſich Schauerhof ſchrieb; dieſer war ein Brodbaͤcker, dabei ein hagerer langer Mann. So wie ſich Meiſter Iſaac und ſein neuer Geſelle geſetzt hatten, und anfingen zu arbeiten, kam auch der Schoͤffe mit ſeiner langen Pfeife, ſetzte ſich zu den Schneidern, und fing mit Meiſter Iſaac an zu reden, wo ſie vermuthlich vorhin aufgehoͤrt hatten.
Ja! ſagte der Schoͤffe: Ich ſtelle mir den Geiſt Chriſti als eine allenthalben gegenwaͤrtige Kraft vor, die uͤberall in den Herzen der Menſchen wirke, um eine jede Seele in ſeine eigene Natur zu verwandeln; je ferner nun Jemand von Gott iſt, je fremder iſt ihm dieſer Geiſt. Was denkſt du davon, Bru- der Iſaac?
Ich ſtelle mir die Sache ungefaͤhr eben ſo vor, verſetzte der Meiſter: es iſt hauptſaͤchlich um den Willen des Menſchen zu thun, der Wille macht ihn faͤhig. —
Nun konnte ſich Stilling nicht mehr halten; er fuͤhlte, daß er bei frommen Leuten war, er fing ganz unvermuthet hinter dem Tiſch an, laut zu weinen und zu rufen: O Gott, ich bin zu Haus! ich bin zu Haus! Alle Anweſende erſtarrten, und entſetzten ſich; ſie wußten nicht, was ihm wiederfuhr. Meiſter Iſaac ſah ihn an und fragte: Wie iſt’s, Stilling? (er
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0231"n="223"/>
trachtete ihn von Haupt bis zu Fuß. Ja! ſagte ſie ſittſam<lb/>
und freundlich: mein Mann iſt verlegen um einen Geſellen;<lb/>
wo ſeyd ihr her? <hirendition="#g">Stilling</hi> antwortete: aus dem Salen-<lb/>ſchen Lande! Die Frau heiterte ſich ganz auf, und ſagte: da<lb/>
iſt mein Mann auch her, ich will ihn rufen laſſen. Er war<lb/>
mit einem Geſellen und Lehrburſchen in einem Haus in der<lb/>
Stadt in Arbeit; ſie ſchickte eins von den Kindern und ließ<lb/>
ihn rufen. In ein paar Minuten kam Meiſter <hirendition="#g">Iſaac</hi> zur<lb/>
Thuͤr herein; ſeine Frau ſagte ihm, was ſie wußte, und er<lb/>
fragte ferner, was er gern wiſſen wollte; der Meiſter nahm<lb/>
ihn willig an. Nun noͤthigte ihn die Frau an den Tiſch;<lb/>
und ſo war ſchon ſeine Speiſe bereitet geweſen, als er noch<lb/>
im Wald irre ging und nachdachte: Ob ihm auch Gott die-<lb/>ſen Mittag die noͤthige Nahrung beſcheeren wuͤrde.</p><lb/><p>Meiſter <hirendition="#g">Iſaac</hi> blieb da und ſpeiste mit. Nach dem Eſſen<lb/>
nahm er ihn mit in die Arbeit, bei einen Schoͤffen, der ſich<lb/><hirendition="#g">Schauerhof</hi>ſchrieb; dieſer war ein Brodbaͤcker, dabei ein<lb/>
hagerer langer Mann. So wie ſich Meiſter <hirendition="#g">Iſaac</hi> und ſein<lb/>
neuer Geſelle geſetzt hatten, und anfingen zu arbeiten, kam<lb/>
auch der Schoͤffe mit ſeiner langen Pfeife, ſetzte ſich zu den<lb/>
Schneidern, und fing mit Meiſter <hirendition="#g">Iſaac</hi> an zu reden, wo<lb/>ſie vermuthlich vorhin aufgehoͤrt hatten.</p><lb/><p>Ja! ſagte der Schoͤffe: Ich ſtelle mir den Geiſt Chriſti<lb/>
als eine allenthalben gegenwaͤrtige Kraft vor, die uͤberall in<lb/>
den Herzen der Menſchen wirke, um eine jede Seele in ſeine<lb/>
eigene Natur zu verwandeln; je ferner nun Jemand von Gott<lb/>
iſt, je fremder iſt ihm dieſer Geiſt. Was denkſt du davon, Bru-<lb/>
der <hirendition="#g">Iſaac</hi>?</p><lb/><p>Ich ſtelle mir die Sache ungefaͤhr eben ſo vor, verſetzte der<lb/>
Meiſter: es iſt hauptſaͤchlich um den Willen des Menſchen zu<lb/>
thun, der Wille macht ihn faͤhig. —</p><lb/><p>Nun konnte ſich <hirendition="#g">Stilling</hi> nicht mehr halten; er fuͤhlte, daß<lb/>
er bei frommen Leuten war, er fing ganz unvermuthet hinter<lb/>
dem Tiſch an, laut zu weinen und zu rufen: O Gott, ich bin<lb/>
zu Haus! ich bin zu Haus! Alle Anweſende erſtarrten, und<lb/>
entſetzten ſich; ſie wußten nicht, was ihm wiederfuhr. Meiſter<lb/><hirendition="#g">Iſaac</hi>ſah ihn an und fragte: Wie iſt’s, <hirendition="#g">Stilling</hi>? (er<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[223/0231]
trachtete ihn von Haupt bis zu Fuß. Ja! ſagte ſie ſittſam
und freundlich: mein Mann iſt verlegen um einen Geſellen;
wo ſeyd ihr her? Stilling antwortete: aus dem Salen-
ſchen Lande! Die Frau heiterte ſich ganz auf, und ſagte: da
iſt mein Mann auch her, ich will ihn rufen laſſen. Er war
mit einem Geſellen und Lehrburſchen in einem Haus in der
Stadt in Arbeit; ſie ſchickte eins von den Kindern und ließ
ihn rufen. In ein paar Minuten kam Meiſter Iſaac zur
Thuͤr herein; ſeine Frau ſagte ihm, was ſie wußte, und er
fragte ferner, was er gern wiſſen wollte; der Meiſter nahm
ihn willig an. Nun noͤthigte ihn die Frau an den Tiſch;
und ſo war ſchon ſeine Speiſe bereitet geweſen, als er noch
im Wald irre ging und nachdachte: Ob ihm auch Gott die-
ſen Mittag die noͤthige Nahrung beſcheeren wuͤrde.
Meiſter Iſaac blieb da und ſpeiste mit. Nach dem Eſſen
nahm er ihn mit in die Arbeit, bei einen Schoͤffen, der ſich
Schauerhof ſchrieb; dieſer war ein Brodbaͤcker, dabei ein
hagerer langer Mann. So wie ſich Meiſter Iſaac und ſein
neuer Geſelle geſetzt hatten, und anfingen zu arbeiten, kam
auch der Schoͤffe mit ſeiner langen Pfeife, ſetzte ſich zu den
Schneidern, und fing mit Meiſter Iſaac an zu reden, wo
ſie vermuthlich vorhin aufgehoͤrt hatten.
Ja! ſagte der Schoͤffe: Ich ſtelle mir den Geiſt Chriſti
als eine allenthalben gegenwaͤrtige Kraft vor, die uͤberall in
den Herzen der Menſchen wirke, um eine jede Seele in ſeine
eigene Natur zu verwandeln; je ferner nun Jemand von Gott
iſt, je fremder iſt ihm dieſer Geiſt. Was denkſt du davon, Bru-
der Iſaac?
Ich ſtelle mir die Sache ungefaͤhr eben ſo vor, verſetzte der
Meiſter: es iſt hauptſaͤchlich um den Willen des Menſchen zu
thun, der Wille macht ihn faͤhig. —
Nun konnte ſich Stilling nicht mehr halten; er fuͤhlte, daß
er bei frommen Leuten war, er fing ganz unvermuthet hinter
dem Tiſch an, laut zu weinen und zu rufen: O Gott, ich bin
zu Haus! ich bin zu Haus! Alle Anweſende erſtarrten, und
entſetzten ſich; ſie wußten nicht, was ihm wiederfuhr. Meiſter
Iſaac ſah ihn an und fragte: Wie iſt’s, Stilling? (er
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/231>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.