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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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nur kurz die Grundzüge der Stilling'schen Polemik gegen
jene Lehren. Wie -- fragt er öfter -- kann auf das Moral-
princip die Religion gegründet werden? Ist nicht das sitt-
liche Gefühl verschieden bei den verschiedenen Völkern, bei
dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige
Rache gegen seinen Feind für eine sittliche Pflicht hält?
Aber -- sagt man -- nicht das unter den Menschen gel-
tende, entstellte, sondern das reine Sittengesetz ist der Grund
der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling,
dieses reine Sittengesetz ist eine leere Formel ohne Inhalt:
von allem Möglichen, Guten und Bösen, läßt sich denken,
es könne allgemeiner Grundsatz aller Menschen werden;
überhaupt aber der Mensch ist nicht bloß ein geistiges, er
ist auch ein sinnliches Wesen. Lässest du also die künftige
Belohnung oder Bestrafung nicht mehr als Triebfeder
zum sittlichen Handeln gelten, wie wirst du alsdann auf
die Menschen, besonders auf den Ungebildeten, veredelnd
einwirken können? Wodurch aber die Kant'sche Philosophie
mit dem Christenthum in den größten Widerspruch kam,
das war die Lehre, daß der Mensch von Natur gut und
vollkommen frei sey. Diesen Satz nun, der zur Leugnung
der Nothwendigkeit der Erlösung führte, greift Stilling
hauptsächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der mensch-
lichen Natur in starken Zügen darstellt, und hieraus den
Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menschheit
aus ihrem Verderben erlösen konnte, daß immer noch eine
Kraft von Oben nothwendig sey, wenn der Mensch gebessert
und geheiligt werden solle. Nicht nur in wissenschaftlicher
Form durch Schlüsse vertheidigt er diese Lehre, sondern
auch dadurch, daß er die christliche Lehre von der Gnade
in ihrer die Menschen beseligenden Wahrheit an einzelnen
Beispielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen
Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge-
fühl seiner Verschuldung vor Gott zagenden Sterbenden
[d]urch leere Hoffnungen, durch Vorstellungen, als wäre
seine Sündhaftigkeit nicht so groß, als er meine, zu trösten
sucht, während derselbe im Innersten durch einen andern
Geistlichen beruhigt wird, welcher ihm einerseits die Tiefe

nur kurz die Grundzüge der Stilling’ſchen Polemik gegen
jene Lehren. Wie — fragt er öfter — kann auf das Moral-
princip die Religion gegründet werden? Iſt nicht das ſitt-
liche Gefühl verſchieden bei den verſchiedenen Völkern, bei
dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige
Rache gegen ſeinen Feind für eine ſittliche Pflicht hält?
Aber — ſagt man — nicht das unter den Menſchen gel-
tende, entſtellte, ſondern das reine Sittengeſetz iſt der Grund
der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling,
dieſes reine Sittengeſetz iſt eine leere Formel ohne Inhalt:
von allem Möglichen, Guten und Böſen, läßt ſich denken,
es könne allgemeiner Grundſatz aller Menſchen werden;
überhaupt aber der Menſch iſt nicht bloß ein geiſtiges, er
iſt auch ein ſinnliches Weſen. Läſſeſt du alſo die künftige
Belohnung oder Beſtrafung nicht mehr als Triebfeder
zum ſittlichen Handeln gelten, wie wirſt du alsdann auf
die Menſchen, beſonders auf den Ungebildeten, veredelnd
einwirken können? Wodurch aber die Kant’ſche Philoſophie
mit dem Chriſtenthum in den größten Widerſpruch kam,
das war die Lehre, daß der Menſch von Natur gut und
vollkommen frei ſey. Dieſen Satz nun, der zur Leugnung
der Nothwendigkeit der Erlöſung führte, greift Stilling
hauptſächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der menſch-
lichen Natur in ſtarken Zügen darſtellt, und hieraus den
Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menſchheit
aus ihrem Verderben erlöſen konnte, daß immer noch eine
Kraft von Oben nothwendig ſey, wenn der Menſch gebeſſert
und geheiligt werden ſolle. Nicht nur in wiſſenſchaftlicher
Form durch Schlüſſe vertheidigt er dieſe Lehre, ſondern
auch dadurch, daß er die chriſtliche Lehre von der Gnade
in ihrer die Menſchen beſeligenden Wahrheit an einzelnen
Beiſpielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen
Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge-
fühl ſeiner Verſchuldung vor Gott zagenden Sterbenden
[d]urch leere Hoffnungen, durch Vorſtellungen, als wäre
ſeine Sündhaftigkeit nicht ſo groß, als er meine, zu tröſten
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[15/0023] nur kurz die Grundzüge der Stilling’ſchen Polemik gegen jene Lehren. Wie — fragt er öfter — kann auf das Moral- princip die Religion gegründet werden? Iſt nicht das ſitt- liche Gefühl verſchieden bei den verſchiedenen Völkern, bei dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige Rache gegen ſeinen Feind für eine ſittliche Pflicht hält? Aber — ſagt man — nicht das unter den Menſchen gel- tende, entſtellte, ſondern das reine Sittengeſetz iſt der Grund der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling, dieſes reine Sittengeſetz iſt eine leere Formel ohne Inhalt: von allem Möglichen, Guten und Böſen, läßt ſich denken, es könne allgemeiner Grundſatz aller Menſchen werden; überhaupt aber der Menſch iſt nicht bloß ein geiſtiges, er iſt auch ein ſinnliches Weſen. Läſſeſt du alſo die künftige Belohnung oder Beſtrafung nicht mehr als Triebfeder zum ſittlichen Handeln gelten, wie wirſt du alsdann auf die Menſchen, beſonders auf den Ungebildeten, veredelnd einwirken können? Wodurch aber die Kant’ſche Philoſophie mit dem Chriſtenthum in den größten Widerſpruch kam, das war die Lehre, daß der Menſch von Natur gut und vollkommen frei ſey. Dieſen Satz nun, der zur Leugnung der Nothwendigkeit der Erlöſung führte, greift Stilling hauptſächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der menſch- lichen Natur in ſtarken Zügen darſtellt, und hieraus den Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menſchheit aus ihrem Verderben erlöſen konnte, daß immer noch eine Kraft von Oben nothwendig ſey, wenn der Menſch gebeſſert und geheiligt werden ſolle. Nicht nur in wiſſenſchaftlicher Form durch Schlüſſe vertheidigt er dieſe Lehre, ſondern auch dadurch, daß er die chriſtliche Lehre von der Gnade in ihrer die Menſchen beſeligenden Wahrheit an einzelnen Beiſpielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge- fühl ſeiner Verſchuldung vor Gott zagenden Sterbenden durch leere Hoffnungen, durch Vorſtellungen, als wäre ſeine Sündhaftigkeit nicht ſo groß, als er meine, zu tröſten ſucht, während derſelbe im Innerſten durch einen andern Geiſtlichen beruhigt wird, welcher ihm einerſeits die Tiefe

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/23>, abgerufen am 21.11.2024.