Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

auf, drückte ihm die Hand und sagte: Heinrich! nimm von
Niemand Abschied, geh, wann dir der himmlische Vater winkt!
Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehst,
schreib mir oft, wie es dir geht! Nun eilte er zur Thüre hinaus.

Stilling ermannte sich, faßte Muth und empfahl sich
Gott; er fühlte, daß er von allen Freunden ganz los war.
Nichts hing ihm weiter an, sondern er erwartete mit Verlan-
gen den zweiten Ostertag, welchen er zu seiner Abreise be-
stimmt hatte; er sagte Niemand in der Welt etwas von sei-
nem Vorhaben, besuchte auch Niemand, sondern blieb zu Haus.

Doch konnte er nicht unterlassen, noch einmal zu guter Letzt
auf den Kirchhof zu gehen. Er thats nicht gern am Tage,
deßwegen ging er des Abends vor Ostern beim Licht des vol-
len Mondes hin und besuchte Vater Stilling's und Dort-
chen
's Grab, setzte sich auf jedes eine kleine Weile und weinte
stille Thränen. Seine Empfindungen waren unaussprechlich.
Er fühlte so etwas in sich und sprach: Wenn diese Beiden
noch lebten, so ging es dir weit anders in der Welt. Er
nahm endlich ordentlich Abschied von beiden Gräbern und von
den ehrwürdigen Gebeinen, die darinnen verwesten, und
ging fort.

Den folgenden Ostermontag Morgen, Anno 1762, welches
der zwölfte April war, rechnete er mit dem Schöffen Keil-
hof
ab. Er bekam noch etwas über vier Reichsthaler. Die-
ses Geld nahm er zu sich, ging auf die Kammer, that seine
drei zerlappten Hemde, das vierte hatte er an, ein Paar alte
Strümpfe, eine Schlafkappe, seine Scheer und Fingerhut in
einen Reisesack, zog darauf seine Kleider an, die aus ein paar
mittelmäßig guten Schuhen, schwarzen wollenen Strümpfen,
ledernen Hosen, schwarzen tuchenen Weste, einem ziemlich gu-
ten braunen Rock von schlechtem Tuch, und einem großen
Hut, nach der damaligen Mode, bestanden. Nun krümmte er
sein fadenrechtes braunes Haar, nahm seinen langen dornenen
Stock in die Hand und wanderte auf Saalen zu, wo er
sich einen Reisepaß besorgte, und zu einem Thor herausging,
das gegen Nordwesten steht. Er gerieth auf eine Landstraße;
ohne zu wissen, wohin sie führte, folgte er derselben, und sie

13 *

auf, druͤckte ihm die Hand und ſagte: Heinrich! nimm von
Niemand Abſchied, geh, wann dir der himmliſche Vater winkt!
Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehſt,
ſchreib mir oft, wie es dir geht! Nun eilte er zur Thuͤre hinaus.

Stilling ermannte ſich, faßte Muth und empfahl ſich
Gott; er fuͤhlte, daß er von allen Freunden ganz los war.
Nichts hing ihm weiter an, ſondern er erwartete mit Verlan-
gen den zweiten Oſtertag, welchen er zu ſeiner Abreiſe be-
ſtimmt hatte; er ſagte Niemand in der Welt etwas von ſei-
nem Vorhaben, beſuchte auch Niemand, ſondern blieb zu Haus.

Doch konnte er nicht unterlaſſen, noch einmal zu guter Letzt
auf den Kirchhof zu gehen. Er thats nicht gern am Tage,
deßwegen ging er des Abends vor Oſtern beim Licht des vol-
len Mondes hin und beſuchte Vater Stilling’s und Dort-
chen
’s Grab, ſetzte ſich auf jedes eine kleine Weile und weinte
ſtille Thraͤnen. Seine Empfindungen waren unausſprechlich.
Er fuͤhlte ſo etwas in ſich und ſprach: Wenn dieſe Beiden
noch lebten, ſo ging es dir weit anders in der Welt. Er
nahm endlich ordentlich Abſchied von beiden Graͤbern und von
den ehrwuͤrdigen Gebeinen, die darinnen verwesten, und
ging fort.

Den folgenden Oſtermontag Morgen, Anno 1762, welches
der zwoͤlfte April war, rechnete er mit dem Schoͤffen Keil-
hof
ab. Er bekam noch etwas uͤber vier Reichsthaler. Die-
ſes Geld nahm er zu ſich, ging auf die Kammer, that ſeine
drei zerlappten Hemde, das vierte hatte er an, ein Paar alte
Struͤmpfe, eine Schlafkappe, ſeine Scheer und Fingerhut in
einen Reiſeſack, zog darauf ſeine Kleider an, die aus ein paar
mittelmaͤßig guten Schuhen, ſchwarzen wollenen Struͤmpfen,
ledernen Hoſen, ſchwarzen tuchenen Weſte, einem ziemlich gu-
ten braunen Rock von ſchlechtem Tuch, und einem großen
Hut, nach der damaligen Mode, beſtanden. Nun kruͤmmte er
ſein fadenrechtes braunes Haar, nahm ſeinen langen dornenen
Stock in die Hand und wanderte auf Saalen zu, wo er
ſich einen Reiſepaß beſorgte, und zu einem Thor herausging,
das gegen Nordweſten ſteht. Er gerieth auf eine Landſtraße;
ohne zu wiſſen, wohin ſie fuͤhrte, folgte er derſelben, und ſie

13 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0203" n="195"/>
auf, dru&#x0364;ckte ihm die Hand und &#x017F;agte: <hi rendition="#g">Heinrich</hi>! nimm von<lb/>
Niemand Ab&#x017F;chied, geh, wann dir der himmli&#x017F;che Vater winkt!<lb/>
Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingeh&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;chreib mir oft, wie es dir geht! Nun eilte er zur Thu&#x0364;re hinaus.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stilling</hi> ermannte &#x017F;ich, faßte Muth und empfahl &#x017F;ich<lb/>
Gott; er fu&#x0364;hlte, daß er von allen Freunden ganz los war.<lb/>
Nichts hing ihm weiter an, &#x017F;ondern er erwartete mit Verlan-<lb/>
gen den zweiten O&#x017F;tertag, welchen er zu &#x017F;einer Abrei&#x017F;e be-<lb/>
&#x017F;timmt hatte; er &#x017F;agte Niemand in der Welt etwas von &#x017F;ei-<lb/>
nem Vorhaben, be&#x017F;uchte auch Niemand, &#x017F;ondern blieb zu Haus.</p><lb/>
            <p>Doch konnte er nicht unterla&#x017F;&#x017F;en, noch einmal zu guter Letzt<lb/>
auf den Kirchhof zu gehen. Er thats nicht gern am Tage,<lb/>
deßwegen ging er des Abends vor O&#x017F;tern beim Licht des vol-<lb/>
len Mondes hin und be&#x017F;uchte Vater <hi rendition="#g">Stilling</hi>&#x2019;s und <hi rendition="#g">Dort-<lb/>
chen</hi>&#x2019;s Grab, &#x017F;etzte &#x017F;ich auf jedes eine kleine Weile und weinte<lb/>
&#x017F;tille Thra&#x0364;nen. Seine Empfindungen waren unaus&#x017F;prechlich.<lb/>
Er fu&#x0364;hlte &#x017F;o etwas in &#x017F;ich und &#x017F;prach: Wenn die&#x017F;e Beiden<lb/>
noch lebten, &#x017F;o ging es dir weit anders in der Welt. Er<lb/>
nahm endlich ordentlich Ab&#x017F;chied von beiden Gra&#x0364;bern und von<lb/>
den ehrwu&#x0364;rdigen Gebeinen, die darinnen verwesten, und<lb/>
ging fort.</p><lb/>
            <p>Den folgenden O&#x017F;termontag Morgen, Anno 1762, welches<lb/>
der zwo&#x0364;lfte April war, rechnete er mit dem Scho&#x0364;ffen <hi rendition="#g">Keil-<lb/>
hof</hi> ab. Er bekam noch etwas u&#x0364;ber vier Reichsthaler. Die-<lb/>
&#x017F;es Geld nahm er zu &#x017F;ich, ging auf die Kammer, that &#x017F;eine<lb/>
drei zerlappten Hemde, das vierte hatte er an, ein Paar alte<lb/>
Stru&#x0364;mpfe, eine Schlafkappe, &#x017F;eine Scheer und Fingerhut in<lb/>
einen Rei&#x017F;e&#x017F;ack, zog darauf &#x017F;eine Kleider an, die aus ein paar<lb/>
mittelma&#x0364;ßig guten Schuhen, &#x017F;chwarzen wollenen Stru&#x0364;mpfen,<lb/>
ledernen Ho&#x017F;en, &#x017F;chwarzen tuchenen We&#x017F;te, einem ziemlich gu-<lb/>
ten braunen Rock von &#x017F;chlechtem Tuch, und einem großen<lb/>
Hut, nach der damaligen Mode, be&#x017F;tanden. Nun kru&#x0364;mmte er<lb/>
&#x017F;ein fadenrechtes braunes Haar, nahm &#x017F;einen langen dornenen<lb/>
Stock in die Hand und wanderte auf <hi rendition="#g">Saalen</hi> zu, wo er<lb/>
&#x017F;ich einen Rei&#x017F;epaß be&#x017F;orgte, und zu einem Thor herausging,<lb/>
das gegen Nordwe&#x017F;ten &#x017F;teht. Er gerieth auf eine Land&#x017F;traße;<lb/>
ohne zu wi&#x017F;&#x017F;en, wohin &#x017F;ie fu&#x0364;hrte, folgte er der&#x017F;elben, und &#x017F;ie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13 *</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0203] auf, druͤckte ihm die Hand und ſagte: Heinrich! nimm von Niemand Abſchied, geh, wann dir der himmliſche Vater winkt! Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehſt, ſchreib mir oft, wie es dir geht! Nun eilte er zur Thuͤre hinaus. Stilling ermannte ſich, faßte Muth und empfahl ſich Gott; er fuͤhlte, daß er von allen Freunden ganz los war. Nichts hing ihm weiter an, ſondern er erwartete mit Verlan- gen den zweiten Oſtertag, welchen er zu ſeiner Abreiſe be- ſtimmt hatte; er ſagte Niemand in der Welt etwas von ſei- nem Vorhaben, beſuchte auch Niemand, ſondern blieb zu Haus. Doch konnte er nicht unterlaſſen, noch einmal zu guter Letzt auf den Kirchhof zu gehen. Er thats nicht gern am Tage, deßwegen ging er des Abends vor Oſtern beim Licht des vol- len Mondes hin und beſuchte Vater Stilling’s und Dort- chen’s Grab, ſetzte ſich auf jedes eine kleine Weile und weinte ſtille Thraͤnen. Seine Empfindungen waren unausſprechlich. Er fuͤhlte ſo etwas in ſich und ſprach: Wenn dieſe Beiden noch lebten, ſo ging es dir weit anders in der Welt. Er nahm endlich ordentlich Abſchied von beiden Graͤbern und von den ehrwuͤrdigen Gebeinen, die darinnen verwesten, und ging fort. Den folgenden Oſtermontag Morgen, Anno 1762, welches der zwoͤlfte April war, rechnete er mit dem Schoͤffen Keil- hof ab. Er bekam noch etwas uͤber vier Reichsthaler. Die- ſes Geld nahm er zu ſich, ging auf die Kammer, that ſeine drei zerlappten Hemde, das vierte hatte er an, ein Paar alte Struͤmpfe, eine Schlafkappe, ſeine Scheer und Fingerhut in einen Reiſeſack, zog darauf ſeine Kleider an, die aus ein paar mittelmaͤßig guten Schuhen, ſchwarzen wollenen Struͤmpfen, ledernen Hoſen, ſchwarzen tuchenen Weſte, einem ziemlich gu- ten braunen Rock von ſchlechtem Tuch, und einem großen Hut, nach der damaligen Mode, beſtanden. Nun kruͤmmte er ſein fadenrechtes braunes Haar, nahm ſeinen langen dornenen Stock in die Hand und wanderte auf Saalen zu, wo er ſich einen Reiſepaß beſorgte, und zu einem Thor herausging, das gegen Nordweſten ſteht. Er gerieth auf eine Landſtraße; ohne zu wiſſen, wohin ſie fuͤhrte, folgte er derſelben, und ſie 13 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/203
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/203>, abgerufen am 05.12.2024.