wärts in die Ferne, und sah einen hohen blauen Berg; er er- kannte, daß dieser Berg nahe bei Dorlingen war; nun traten ihm alle dortigen Scenen klar vors Gemüth, sein Schicksal auf der Rauchkammer und alles andere, was er da gelitten hatte. Nun sah er westwärts die Leindorfer Wiesen in der Ferne liegen, er fuhr zusammen und es schauderte ihm in allen Glie- dern. Südwärts sah er die Preisinger Berge mit der Haide, wo Anna ihr Lied sang. Südwestwärts fielen ihm die Klee- felder Gefilde in die Augen, und mit Einemmal überdachte er sein kurzes und mühseliges Leben. Er sank auf die Knie, weinte laut und betete feurig zum Allmächtigen um Gnade und Erbarmen. Nun stand er auf, seine Seele schwamm in Em- pfindungen und Kraft; er setzte sich neben den Hollunderstrauch, nahm seine Schreibtafel aus der Tasche und schrieb:
Hört ihr lieben Vögelein, Eures Freundes stille Klagen! Hört, ihr Bäume, groß und klein, Was euch meine Seufzer sagen! Welke Blumen horchet still, Was ich jetzo singen will:
Mutter-Engel! wallst du nicht Hier auf diesen Grases-Spitzen? Weilst du wohl beim Monden-Licht Glänzend an den Rasen-Sitzen, Wo dein Herz sich so ergoß, Als dein Blut noch in mich floß?
Schaut wohl dein verklärtes Aug, Diese matte Sonnenstrahlen? Blickst du aus dem Lasurblau, Das so viele Stern' bemalen, Wohl zuweilen auf mich hin, Wenn ich bang und traurig bin?
Oder schwebst du um mich her, Wenn ich oft in trüben Stunden, Da mir war das Herz so schwer, Einen stillen Kuß empfunden? Trank ich dann mit Himmelslust Aus der sel'gen Mutterbrust?
waͤrts in die Ferne, und ſah einen hohen blauen Berg; er er- kannte, daß dieſer Berg nahe bei Dorlingen war; nun traten ihm alle dortigen Scenen klar vors Gemuͤth, ſein Schickſal auf der Rauchkammer und alles andere, was er da gelitten hatte. Nun ſah er weſtwaͤrts die Leindorfer Wieſen in der Ferne liegen, er fuhr zuſammen und es ſchauderte ihm in allen Glie- dern. Suͤdwaͤrts ſah er die Preiſinger Berge mit der Haide, wo Anna ihr Lied ſang. Suͤdweſtwaͤrts fielen ihm die Klee- felder Gefilde in die Augen, und mit Einemmal uͤberdachte er ſein kurzes und muͤhſeliges Leben. Er ſank auf die Knie, weinte laut und betete feurig zum Allmaͤchtigen um Gnade und Erbarmen. Nun ſtand er auf, ſeine Seele ſchwamm in Em- pfindungen und Kraft; er ſetzte ſich neben den Hollunderſtrauch, nahm ſeine Schreibtafel aus der Taſche und ſchrieb:
Hört ihr lieben Vögelein, Eures Freundes ſtille Klagen! Hört, ihr Bäume, groß und klein, Was euch meine Seufzer ſagen! Welke Blumen horchet ſtill, Was ich jetzo ſingen will:
Mutter-Engel! wallſt du nicht Hier auf dieſen Graſes-Spitzen? Weilſt du wohl beim Monden-Licht Glänzend an den Raſen-Sitzen, Wo dein Herz ſich ſo ergoß, Als dein Blut noch in mich floß?
Schaut wohl dein verklärtes Aug, Dieſe matte Sonnenſtrahlen? Blickſt du aus dem Laſurblau, Das ſo viele Stern’ bemalen, Wohl zuweilen auf mich hin, Wenn ich bang und traurig bin?
Oder ſchwebſt du um mich her, Wenn ich oft in trüben Stunden, Da mir war das Herz ſo ſchwer, Einen ſtillen Kuß empfunden? Trank ich dann mit Himmelsluſt Aus der ſel’gen Mutterbruſt?
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waͤrts in die Ferne, und ſah einen hohen blauen Berg; er er-
kannte, daß dieſer Berg nahe bei Dorlingen war; nun traten
ihm alle dortigen Scenen klar vors Gemuͤth, ſein Schickſal auf
der Rauchkammer und alles andere, was er da gelitten hatte.
Nun ſah er weſtwaͤrts die Leindorfer Wieſen in der Ferne
liegen, er fuhr zuſammen und es ſchauderte ihm in allen Glie-
dern. Suͤdwaͤrts ſah er die Preiſinger Berge mit der Haide,
wo Anna ihr Lied ſang. Suͤdweſtwaͤrts fielen ihm die Klee-
felder Gefilde in die Augen, und mit Einemmal uͤberdachte
er ſein kurzes und muͤhſeliges Leben. Er ſank auf die Knie,
weinte laut und betete feurig zum Allmaͤchtigen um Gnade und
Erbarmen. Nun ſtand er auf, ſeine Seele ſchwamm in Em-
pfindungen und Kraft; er ſetzte ſich neben den Hollunderſtrauch,
nahm ſeine Schreibtafel aus der Taſche und ſchrieb:
Hört ihr lieben Vögelein,
Eures Freundes ſtille Klagen!
Hört, ihr Bäume, groß und klein,
Was euch meine Seufzer ſagen!
Welke Blumen horchet ſtill,
Was ich jetzo ſingen will:
Mutter-Engel! wallſt du nicht
Hier auf dieſen Graſes-Spitzen?
Weilſt du wohl beim Monden-Licht
Glänzend an den Raſen-Sitzen,
Wo dein Herz ſich ſo ergoß,
Als dein Blut noch in mich floß?
Schaut wohl dein verklärtes Aug,
Dieſe matte Sonnenſtrahlen?
Blickſt du aus dem Laſurblau,
Das ſo viele Stern’ bemalen,
Wohl zuweilen auf mich hin,
Wenn ich bang und traurig bin?
Oder ſchwebſt du um mich her,
Wenn ich oft in trüben Stunden,
Da mir war das Herz ſo ſchwer,
Einen ſtillen Kuß empfunden?
Trank ich dann mit Himmelsluſt
Aus der ſel’gen Mutterbruſt?
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/188>, abgerufen am 16.02.2025.
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