Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

ganze Einbildung war schon mit seinem zukünftigen glückseligen
Zustand beschäftiget.

Des andern Tages blieb er noch zu Lahnburg. Der Hof-
prediger gab sich alle Mühe, um gewisse Hoffnung wegen der
bewußten Bedienung Stillingen mitzugeben, und es gelang
ihm auch. Die ganze Sache wurde so zu sagen beschlossen,
und Stilling ging, vor Freude trunken, zurück nach Roth-
hagen
zu Vetter Goldmann. Diesem erzählte er die ganze
Sache. Herr Goldmann mußte herzlich lachen, als er Stil-
ling
mit solchem Enthusiasmus reden hörte. Als er ausge-
redet hatte, fing der Richter an: O Vetter! Vetter! wo will's
doch mit Euch hinaus? -- Das ist eine Stelle, die Euch Gott
im Zorn gibt, wenn Ihr sie bekommt, das ist der gerade Weg
zu Eurem gänzlichen Verderben, und das will ich Euch bewei-
sen: sobald Ihr da seyd, fangen alle Hofschranzen an, Euch zu
besuchen und sich bei Euch lustig zu machen; leidet Ihr das
nicht, so stürzen sie Euch, sobald sie können, und laßt Ihr ih-
nen ihre Freiheit, so reicht Euer Gehalt nicht halb zu.

Stilling erschrack, als er seinen Vetter so reden hörte; er
erzählte ihm darauf alle die guten Lehren, die ihm der Hofpre-
diger gegeben hatte.

Die Prediger können das sehr selten, sagte Herr Gold-
mann
. Sie moralisiren gut und ein braver Prediger kann
auch in seinem Cirkel gut moralisch leben, aber! aber! wir
Andern können das so nicht; man führt die Geistlichen nicht
so leicht in Versuchung, als andere Leute. Sie haben gut
sagen! -- Hört, Vetter! alle moralischen Predigten sind nicht
einen Pfifferling werth, der Verstand bestimmt niemalen unsre
Handlungen, wenn die Leidenschaften etwas stark dabei interes-
sirt sind, das Herz macht allezeit ein Mäntelchen darum und
überredet uns: schwarz sey weiß! -- Vetter! ich sag Euch
eine größere Wahrheit, als Freund Schneeberg. Wer
nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer star-
ken Leidenschaft Gott liebt, den hilft alles Mora-
lisiren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes
allein macht uns tüchtig, moralisch gut zu wer-
den
. Dieses sey Euch ein Notabene, Vetter Stilling!

ganze Einbildung war ſchon mit ſeinem zukuͤnftigen gluͤckſeligen
Zuſtand beſchaͤftiget.

Des andern Tages blieb er noch zu Lahnburg. Der Hof-
prediger gab ſich alle Muͤhe, um gewiſſe Hoffnung wegen der
bewußten Bedienung Stillingen mitzugeben, und es gelang
ihm auch. Die ganze Sache wurde ſo zu ſagen beſchloſſen,
und Stilling ging, vor Freude trunken, zuruͤck nach Roth-
hagen
zu Vetter Goldmann. Dieſem erzaͤhlte er die ganze
Sache. Herr Goldmann mußte herzlich lachen, als er Stil-
ling
mit ſolchem Enthuſiasmus reden hoͤrte. Als er ausge-
redet hatte, fing der Richter an: O Vetter! Vetter! wo will’s
doch mit Euch hinaus? — Das iſt eine Stelle, die Euch Gott
im Zorn gibt, wenn Ihr ſie bekommt, das iſt der gerade Weg
zu Eurem gaͤnzlichen Verderben, und das will ich Euch bewei-
ſen: ſobald Ihr da ſeyd, fangen alle Hofſchranzen an, Euch zu
beſuchen und ſich bei Euch luſtig zu machen; leidet Ihr das
nicht, ſo ſtuͤrzen ſie Euch, ſobald ſie koͤnnen, und laßt Ihr ih-
nen ihre Freiheit, ſo reicht Euer Gehalt nicht halb zu.

Stilling erſchrack, als er ſeinen Vetter ſo reden hoͤrte; er
erzaͤhlte ihm darauf alle die guten Lehren, die ihm der Hofpre-
diger gegeben hatte.

Die Prediger koͤnnen das ſehr ſelten, ſagte Herr Gold-
mann
. Sie moraliſiren gut und ein braver Prediger kann
auch in ſeinem Cirkel gut moraliſch leben, aber! aber! wir
Andern koͤnnen das ſo nicht; man fuͤhrt die Geiſtlichen nicht
ſo leicht in Verſuchung, als andere Leute. Sie haben gut
ſagen! — Hoͤrt, Vetter! alle moraliſchen Predigten ſind nicht
einen Pfifferling werth, der Verſtand beſtimmt niemalen unſre
Handlungen, wenn die Leidenſchaften etwas ſtark dabei intereſ-
ſirt ſind, das Herz macht allezeit ein Maͤntelchen darum und
uͤberredet uns: ſchwarz ſey weiß! — Vetter! ich ſag Euch
eine groͤßere Wahrheit, als Freund Schneeberg. Wer
nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer ſtar-
ken Leidenſchaft Gott liebt, den hilft alles Mora-
liſiren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes
allein macht uns tuͤchtig, moraliſch gut zu wer-
den
. Dieſes ſey Euch ein Notabene, Vetter Stilling!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0181" n="173"/>
ganze Einbildung war &#x017F;chon mit &#x017F;einem zuku&#x0364;nftigen glu&#x0364;ck&#x017F;eligen<lb/>
Zu&#x017F;tand be&#x017F;cha&#x0364;ftiget.</p><lb/>
            <p>Des andern Tages blieb er noch zu <hi rendition="#g">Lahnburg</hi>. Der Hof-<lb/>
prediger gab &#x017F;ich alle Mu&#x0364;he, um gewi&#x017F;&#x017F;e Hoffnung wegen der<lb/>
bewußten Bedienung <hi rendition="#g">Stillingen</hi> mitzugeben, und es gelang<lb/>
ihm auch. Die ganze Sache wurde &#x017F;o zu &#x017F;agen be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und <hi rendition="#g">Stilling</hi> ging, vor Freude trunken, zuru&#x0364;ck nach <hi rendition="#g">Roth-<lb/>
hagen</hi> zu Vetter <hi rendition="#g">Goldmann</hi>. Die&#x017F;em erza&#x0364;hlte er die ganze<lb/>
Sache. Herr <hi rendition="#g">Goldmann</hi> mußte herzlich lachen, als er <hi rendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> mit &#x017F;olchem Enthu&#x017F;iasmus reden ho&#x0364;rte. Als er ausge-<lb/>
redet hatte, fing der Richter an: O Vetter! Vetter! wo will&#x2019;s<lb/>
doch mit Euch hinaus? &#x2014; Das i&#x017F;t eine Stelle, die Euch Gott<lb/>
im Zorn gibt, wenn Ihr &#x017F;ie bekommt, das i&#x017F;t der gerade Weg<lb/>
zu Eurem ga&#x0364;nzlichen Verderben, und das will ich Euch bewei-<lb/>
&#x017F;en: &#x017F;obald Ihr da &#x017F;eyd, fangen alle Hof&#x017F;chranzen an, Euch zu<lb/>
be&#x017F;uchen und &#x017F;ich bei Euch lu&#x017F;tig zu machen; leidet Ihr das<lb/>
nicht, &#x017F;o &#x017F;tu&#x0364;rzen &#x017F;ie Euch, &#x017F;obald &#x017F;ie ko&#x0364;nnen, und laßt Ihr ih-<lb/>
nen ihre Freiheit, &#x017F;o reicht Euer Gehalt nicht halb zu.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stilling</hi> er&#x017F;chrack, als er &#x017F;einen Vetter &#x017F;o reden ho&#x0364;rte; er<lb/>
erza&#x0364;hlte ihm darauf alle die guten Lehren, die ihm der Hofpre-<lb/>
diger gegeben hatte.</p><lb/>
            <p>Die Prediger ko&#x0364;nnen das &#x017F;ehr &#x017F;elten, &#x017F;agte Herr <hi rendition="#g">Gold-<lb/>
mann</hi>. Sie morali&#x017F;iren gut und ein braver Prediger kann<lb/>
auch in &#x017F;einem Cirkel gut morali&#x017F;ch leben, aber! aber! wir<lb/>
Andern ko&#x0364;nnen das &#x017F;o nicht; man fu&#x0364;hrt die Gei&#x017F;tlichen nicht<lb/>
&#x017F;o leicht in Ver&#x017F;uchung, als andere Leute. Sie haben gut<lb/>
&#x017F;agen! &#x2014; Ho&#x0364;rt, Vetter! alle morali&#x017F;chen Predigten &#x017F;ind nicht<lb/>
einen Pfifferling werth, der Ver&#x017F;tand be&#x017F;timmt niemalen un&#x017F;re<lb/>
Handlungen, wenn die Leiden&#x017F;chaften etwas &#x017F;tark dabei intere&#x017F;-<lb/>
&#x017F;irt &#x017F;ind, das Herz macht allezeit ein Ma&#x0364;ntelchen darum und<lb/>
u&#x0364;berredet uns: &#x017F;chwarz &#x017F;ey weiß! &#x2014; Vetter! ich &#x017F;ag Euch<lb/>
eine gro&#x0364;ßere Wahrheit, als Freund <hi rendition="#g">Schneeberg. Wer<lb/>
nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer &#x017F;tar-<lb/>
ken Leiden&#x017F;chaft Gott liebt, den hilft alles Mora-<lb/>
li&#x017F;iren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes<lb/>
allein macht uns tu&#x0364;chtig, morali&#x017F;ch gut zu wer-<lb/>
den</hi>. Die&#x017F;es &#x017F;ey Euch ein Notabene, Vetter <hi rendition="#g">Stilling</hi>!<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0181] ganze Einbildung war ſchon mit ſeinem zukuͤnftigen gluͤckſeligen Zuſtand beſchaͤftiget. Des andern Tages blieb er noch zu Lahnburg. Der Hof- prediger gab ſich alle Muͤhe, um gewiſſe Hoffnung wegen der bewußten Bedienung Stillingen mitzugeben, und es gelang ihm auch. Die ganze Sache wurde ſo zu ſagen beſchloſſen, und Stilling ging, vor Freude trunken, zuruͤck nach Roth- hagen zu Vetter Goldmann. Dieſem erzaͤhlte er die ganze Sache. Herr Goldmann mußte herzlich lachen, als er Stil- ling mit ſolchem Enthuſiasmus reden hoͤrte. Als er ausge- redet hatte, fing der Richter an: O Vetter! Vetter! wo will’s doch mit Euch hinaus? — Das iſt eine Stelle, die Euch Gott im Zorn gibt, wenn Ihr ſie bekommt, das iſt der gerade Weg zu Eurem gaͤnzlichen Verderben, und das will ich Euch bewei- ſen: ſobald Ihr da ſeyd, fangen alle Hofſchranzen an, Euch zu beſuchen und ſich bei Euch luſtig zu machen; leidet Ihr das nicht, ſo ſtuͤrzen ſie Euch, ſobald ſie koͤnnen, und laßt Ihr ih- nen ihre Freiheit, ſo reicht Euer Gehalt nicht halb zu. Stilling erſchrack, als er ſeinen Vetter ſo reden hoͤrte; er erzaͤhlte ihm darauf alle die guten Lehren, die ihm der Hofpre- diger gegeben hatte. Die Prediger koͤnnen das ſehr ſelten, ſagte Herr Gold- mann. Sie moraliſiren gut und ein braver Prediger kann auch in ſeinem Cirkel gut moraliſch leben, aber! aber! wir Andern koͤnnen das ſo nicht; man fuͤhrt die Geiſtlichen nicht ſo leicht in Verſuchung, als andere Leute. Sie haben gut ſagen! — Hoͤrt, Vetter! alle moraliſchen Predigten ſind nicht einen Pfifferling werth, der Verſtand beſtimmt niemalen unſre Handlungen, wenn die Leidenſchaften etwas ſtark dabei intereſ- ſirt ſind, das Herz macht allezeit ein Maͤntelchen darum und uͤberredet uns: ſchwarz ſey weiß! — Vetter! ich ſag Euch eine groͤßere Wahrheit, als Freund Schneeberg. Wer nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer ſtar- ken Leidenſchaft Gott liebt, den hilft alles Mora- liſiren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes allein macht uns tuͤchtig, moraliſch gut zu wer- den. Dieſes ſey Euch ein Notabene, Vetter Stilling!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/181
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/181>, abgerufen am 28.11.2024.