Es graste ein Schäflein am Felsenstein? Sie hüpfte in der Stube und küßte alle Menschen, die sie sah. Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß ich erleben! sagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling erzählte indessen alles, was er von der Tante gehört hatte und trauerte herzlich um sie. Seine Seele, die ohnehin so empfind- sam war, versank in tiefen Kummer. Denn er sah nunmehr wohl ein, woher das Unglück entstanden war, und doch durfte er keinem Menschen ein Wörtchen davon sagen. Maria merkte es auch, sie spiegelte sich an ihrer Schwester und zog ihr Herz allmählig von Stilling ab, indem sie andern bra- ven Jünglingen Gehör gab, die um sie warben. Indessen brachte man die arme Anna oben im Hause auf ein Zim- mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf sie Acht haben und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz rasend, so, daß sie alles zerriß, was sie nur zu fassen bekam; man rief alsdann den Schulmeister, weil man keine andre Manns- person, außer dem Knecht, im Hause hatte; dieser konnte sie bald zur Ruhe bringen, er hieß sie nur Lore, dann hieß sie ihn Faramund und war so zahm, wie ein Lämmchen.
Ihr gewöhnlicher Zeitvertreib bestand darin, daß sie eine Schäferin vorstellte; und diese Idee muß blos von obigem Lied hergekommen seyn, denn sie hatte gewiß keine Schäfer- geschichte oder Idyllen gelesen, ausgenommen einige Lieder, welche von der Art in Schmolls Hause ging und gäbe waren. Wenn man zu ihr hinaufkam, so hatte sie ein weißes Hemd über ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezügelten Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte sie sich mit einem grünen Band gegürtet, dessen lang herabhäugendes Ende sie ihrem Schäferhund, den sie Philax hieß und der Niemand anders, als ihre alte Aufwärterin war, um den Hals gebun- den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Händen und Fü- ßen herumkriechen und so gut bellen, als sie konnte, wenn sie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; öfters wars mit dem Bellen nicht genug, sondern sie mußte sogar einen oder den andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau müde, die Hundsrolle zu spielen, allein sie bekam alsdann derbe Schläge,
Es graste ein Schaͤflein am Felſenſtein? Sie huͤpfte in der Stube und kuͤßte alle Menſchen, die ſie ſah. Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß ich erleben! ſagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling erzaͤhlte indeſſen alles, was er von der Tante gehoͤrt hatte und trauerte herzlich um ſie. Seine Seele, die ohnehin ſo empfind- ſam war, verſank in tiefen Kummer. Denn er ſah nunmehr wohl ein, woher das Ungluͤck entſtanden war, und doch durfte er keinem Menſchen ein Woͤrtchen davon ſagen. Maria merkte es auch, ſie ſpiegelte ſich an ihrer Schweſter und zog ihr Herz allmaͤhlig von Stilling ab, indem ſie andern bra- ven Juͤnglingen Gehoͤr gab, die um ſie warben. Indeſſen brachte man die arme Anna oben im Hauſe auf ein Zim- mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf ſie Acht haben und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz raſend, ſo, daß ſie alles zerriß, was ſie nur zu faſſen bekam; man rief alsdann den Schulmeiſter, weil man keine andre Manns- perſon, außer dem Knecht, im Hauſe hatte; dieſer konnte ſie bald zur Ruhe bringen, er hieß ſie nur Lore, dann hieß ſie ihn Faramund und war ſo zahm, wie ein Laͤmmchen.
Ihr gewoͤhnlicher Zeitvertreib beſtand darin, daß ſie eine Schaͤferin vorſtellte; und dieſe Idee muß blos von obigem Lied hergekommen ſeyn, denn ſie hatte gewiß keine Schaͤfer- geſchichte oder Idyllen geleſen, ausgenommen einige Lieder, welche von der Art in Schmolls Hauſe ging und gaͤbe waren. Wenn man zu ihr hinaufkam, ſo hatte ſie ein weißes Hemd uͤber ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezuͤgelten Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte ſie ſich mit einem gruͤnen Band geguͤrtet, deſſen lang herabhaͤugendes Ende ſie ihrem Schaͤferhund, den ſie Philax hieß und der Niemand anders, als ihre alte Aufwaͤrterin war, um den Hals gebun- den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Haͤnden und Fuͤ- ßen herumkriechen und ſo gut bellen, als ſie konnte, wenn ſie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; oͤfters wars mit dem Bellen nicht genug, ſondern ſie mußte ſogar einen oder den andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau muͤde, die Hundsrolle zu ſpielen, allein ſie bekam alsdann derbe Schlaͤge,
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Es graste ein Schaͤflein am Felſenſtein?
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Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß
ich erleben! ſagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling
erzaͤhlte indeſſen alles, was er von der Tante gehoͤrt hatte und
trauerte herzlich um ſie. Seine Seele, die ohnehin ſo empfind-
ſam war, verſank in tiefen Kummer. Denn er ſah nunmehr
wohl ein, woher das Ungluͤck entſtanden war, und doch durfte
er keinem Menſchen ein Woͤrtchen davon ſagen. Maria
merkte es auch, ſie ſpiegelte ſich an ihrer Schweſter und zog
ihr Herz allmaͤhlig von Stilling ab, indem ſie andern bra-
ven Juͤnglingen Gehoͤr gab, die um ſie warben. Indeſſen
brachte man die arme Anna oben im Hauſe auf ein Zim-
mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf ſie Acht haben
und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz raſend,
ſo, daß ſie alles zerriß, was ſie nur zu faſſen bekam; man
rief alsdann den Schulmeiſter, weil man keine andre Manns-
perſon, außer dem Knecht, im Hauſe hatte; dieſer konnte ſie
bald zur Ruhe bringen, er hieß ſie nur Lore, dann hieß ſie
ihn Faramund und war ſo zahm, wie ein Laͤmmchen.
Ihr gewoͤhnlicher Zeitvertreib beſtand darin, daß ſie eine
Schaͤferin vorſtellte; und dieſe Idee muß blos von obigem
Lied hergekommen ſeyn, denn ſie hatte gewiß keine Schaͤfer-
geſchichte oder Idyllen geleſen, ausgenommen einige Lieder,
welche von der Art in Schmolls Hauſe ging und gaͤbe waren.
Wenn man zu ihr hinaufkam, ſo hatte ſie ein weißes Hemd
uͤber ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezuͤgelten
Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte ſie ſich mit einem
gruͤnen Band geguͤrtet, deſſen lang herabhaͤugendes Ende ſie
ihrem Schaͤferhund, den ſie Philax hieß und der Niemand
anders, als ihre alte Aufwaͤrterin war, um den Hals gebun-
den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Haͤnden und Fuͤ-
ßen herumkriechen und ſo gut bellen, als ſie konnte, wenn
ſie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; oͤfters wars mit dem
Bellen nicht genug, ſondern ſie mußte ſogar einen oder den
andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau muͤde, die
Hundsrolle zu ſpielen, allein ſie bekam alsdann derbe Schlaͤge,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/157>, abgerufen am 22.11.2024.
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