Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Es graste ein Schäflein am Felsenstein?
Sie hüpfte in der Stube und küßte alle Menschen, die sie sah.
Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß
ich erleben! sagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling
erzählte indessen alles, was er von der Tante gehört hatte und
trauerte herzlich um sie. Seine Seele, die ohnehin so empfind-
sam war, versank in tiefen Kummer. Denn er sah nunmehr
wohl ein, woher das Unglück entstanden war, und doch durfte
er keinem Menschen ein Wörtchen davon sagen. Maria
merkte es auch, sie spiegelte sich an ihrer Schwester und zog
ihr Herz allmählig von Stilling ab, indem sie andern bra-
ven Jünglingen Gehör gab, die um sie warben. Indessen
brachte man die arme Anna oben im Hause auf ein Zim-
mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf sie Acht haben
und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz rasend,
so, daß sie alles zerriß, was sie nur zu fassen bekam; man
rief alsdann den Schulmeister, weil man keine andre Manns-
person, außer dem Knecht, im Hause hatte; dieser konnte sie
bald zur Ruhe bringen, er hieß sie nur Lore, dann hieß sie
ihn Faramund und war so zahm, wie ein Lämmchen.

Ihr gewöhnlicher Zeitvertreib bestand darin, daß sie eine
Schäferin vorstellte; und diese Idee muß blos von obigem
Lied hergekommen seyn, denn sie hatte gewiß keine Schäfer-
geschichte oder Idyllen gelesen, ausgenommen einige Lieder,
welche von der Art in Schmolls Hause ging und gäbe waren.
Wenn man zu ihr hinaufkam, so hatte sie ein weißes Hemd
über ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezügelten
Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte sie sich mit einem
grünen Band gegürtet, dessen lang herabhäugendes Ende sie
ihrem Schäferhund, den sie Philax hieß und der Niemand
anders, als ihre alte Aufwärterin war, um den Hals gebun-
den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Händen und Fü-
ßen herumkriechen und so gut bellen, als sie konnte, wenn
sie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; öfters wars mit dem
Bellen nicht genug, sondern sie mußte sogar einen oder den
andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau müde, die
Hundsrolle zu spielen, allein sie bekam alsdann derbe Schläge,

Es graste ein Schaͤflein am Felſenſtein?
Sie huͤpfte in der Stube und kuͤßte alle Menſchen, die ſie ſah.
Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß
ich erleben! ſagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling
erzaͤhlte indeſſen alles, was er von der Tante gehoͤrt hatte und
trauerte herzlich um ſie. Seine Seele, die ohnehin ſo empfind-
ſam war, verſank in tiefen Kummer. Denn er ſah nunmehr
wohl ein, woher das Ungluͤck entſtanden war, und doch durfte
er keinem Menſchen ein Woͤrtchen davon ſagen. Maria
merkte es auch, ſie ſpiegelte ſich an ihrer Schweſter und zog
ihr Herz allmaͤhlig von Stilling ab, indem ſie andern bra-
ven Juͤnglingen Gehoͤr gab, die um ſie warben. Indeſſen
brachte man die arme Anna oben im Hauſe auf ein Zim-
mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf ſie Acht haben
und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz raſend,
ſo, daß ſie alles zerriß, was ſie nur zu faſſen bekam; man
rief alsdann den Schulmeiſter, weil man keine andre Manns-
perſon, außer dem Knecht, im Hauſe hatte; dieſer konnte ſie
bald zur Ruhe bringen, er hieß ſie nur Lore, dann hieß ſie
ihn Faramund und war ſo zahm, wie ein Laͤmmchen.

Ihr gewoͤhnlicher Zeitvertreib beſtand darin, daß ſie eine
Schaͤferin vorſtellte; und dieſe Idee muß blos von obigem
Lied hergekommen ſeyn, denn ſie hatte gewiß keine Schaͤfer-
geſchichte oder Idyllen geleſen, ausgenommen einige Lieder,
welche von der Art in Schmolls Hauſe ging und gaͤbe waren.
Wenn man zu ihr hinaufkam, ſo hatte ſie ein weißes Hemd
uͤber ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezuͤgelten
Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte ſie ſich mit einem
gruͤnen Band geguͤrtet, deſſen lang herabhaͤugendes Ende ſie
ihrem Schaͤferhund, den ſie Philax hieß und der Niemand
anders, als ihre alte Aufwaͤrterin war, um den Hals gebun-
den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Haͤnden und Fuͤ-
ßen herumkriechen und ſo gut bellen, als ſie konnte, wenn
ſie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; oͤfters wars mit dem
Bellen nicht genug, ſondern ſie mußte ſogar einen oder den
andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau muͤde, die
Hundsrolle zu ſpielen, allein ſie bekam alsdann derbe Schlaͤge,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0157" n="149"/><hi rendition="#c">Es graste ein Scha&#x0364;flein am Fel&#x017F;en&#x017F;tein?</hi><lb/>
Sie hu&#x0364;pfte in der Stube und ku&#x0364;ßte alle Men&#x017F;chen, die &#x017F;ie &#x017F;ah.<lb/>
Frau <hi rendition="#g">Schmoll</hi> und <hi rendition="#g">Maria</hi> weinten laut. Ach! was muß<lb/>
ich erleben! &#x017F;agte die gute Mutter und heulte laut. <hi rendition="#g">Stilling</hi><lb/>
erza&#x0364;hlte inde&#x017F;&#x017F;en alles, was er von der Tante geho&#x0364;rt hatte und<lb/>
trauerte herzlich um &#x017F;ie. Seine Seele, die ohnehin &#x017F;o empfind-<lb/>
&#x017F;am war, ver&#x017F;ank in tiefen Kummer. Denn er &#x017F;ah nunmehr<lb/>
wohl ein, woher das Unglu&#x0364;ck ent&#x017F;tanden war, und doch durfte<lb/>
er keinem Men&#x017F;chen ein Wo&#x0364;rtchen davon &#x017F;agen. <hi rendition="#g">Maria</hi><lb/>
merkte es auch, &#x017F;ie &#x017F;piegelte &#x017F;ich an ihrer Schwe&#x017F;ter und zog<lb/>
ihr Herz allma&#x0364;hlig von <hi rendition="#g">Stilling</hi> ab, indem &#x017F;ie andern bra-<lb/>
ven Ju&#x0364;nglingen Geho&#x0364;r gab, die um &#x017F;ie warben. Inde&#x017F;&#x017F;en<lb/>
brachte man die arme <hi rendition="#g">Anna</hi> oben im Hau&#x017F;e auf ein Zim-<lb/>
mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf &#x017F;ie Acht haben<lb/>
und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz ra&#x017F;end,<lb/>
&#x017F;o, daß &#x017F;ie <hi rendition="#g">alles</hi> zerriß, was &#x017F;ie nur zu fa&#x017F;&#x017F;en bekam; man<lb/>
rief alsdann den Schulmei&#x017F;ter, weil man keine andre Manns-<lb/>
per&#x017F;on, außer dem Knecht, im Hau&#x017F;e hatte; die&#x017F;er konnte &#x017F;ie<lb/>
bald zur Ruhe bringen, er hieß &#x017F;ie nur <hi rendition="#g">Lore</hi>, dann hieß &#x017F;ie<lb/>
ihn <hi rendition="#g">Faramund</hi> und war &#x017F;o zahm, wie ein La&#x0364;mmchen.</p><lb/>
            <p>Ihr gewo&#x0364;hnlicher Zeitvertreib be&#x017F;tand darin, daß &#x017F;ie eine<lb/>
Scha&#x0364;ferin vor&#x017F;tellte; und die&#x017F;e Idee muß blos von obigem<lb/>
Lied hergekommen &#x017F;eyn, denn &#x017F;ie hatte gewiß keine Scha&#x0364;fer-<lb/>
ge&#x017F;chichte oder Idyllen gele&#x017F;en, ausgenommen einige Lieder,<lb/>
welche von der Art in <hi rendition="#g">Schmolls</hi> Hau&#x017F;e ging und ga&#x0364;be waren.<lb/>
Wenn man zu ihr hinaufkam, &#x017F;o hatte &#x017F;ie ein weißes Hemd<lb/>
u&#x0364;ber ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezu&#x0364;gelten<lb/>
Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte &#x017F;ie &#x017F;ich mit einem<lb/>
gru&#x0364;nen Band gegu&#x0364;rtet, de&#x017F;&#x017F;en lang herabha&#x0364;ugendes Ende &#x017F;ie<lb/>
ihrem Scha&#x0364;ferhund, den &#x017F;ie <hi rendition="#g">Philax</hi> hieß und der Niemand<lb/>
anders, als ihre alte Aufwa&#x0364;rterin war, um den Hals gebun-<lb/>
den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Ha&#x0364;nden und Fu&#x0364;-<lb/>
ßen herumkriechen und &#x017F;o gut bellen, als &#x017F;ie konnte, wenn<lb/>
&#x017F;ie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; o&#x0364;fters wars mit dem<lb/>
Bellen nicht genug, &#x017F;ondern &#x017F;ie mußte &#x017F;ogar einen oder den<lb/>
andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau mu&#x0364;de, die<lb/>
Hundsrolle zu &#x017F;pielen, allein &#x017F;ie bekam alsdann derbe Schla&#x0364;ge,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[149/0157] Es graste ein Schaͤflein am Felſenſtein? Sie huͤpfte in der Stube und kuͤßte alle Menſchen, die ſie ſah. Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß ich erleben! ſagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling erzaͤhlte indeſſen alles, was er von der Tante gehoͤrt hatte und trauerte herzlich um ſie. Seine Seele, die ohnehin ſo empfind- ſam war, verſank in tiefen Kummer. Denn er ſah nunmehr wohl ein, woher das Ungluͤck entſtanden war, und doch durfte er keinem Menſchen ein Woͤrtchen davon ſagen. Maria merkte es auch, ſie ſpiegelte ſich an ihrer Schweſter und zog ihr Herz allmaͤhlig von Stilling ab, indem ſie andern bra- ven Juͤnglingen Gehoͤr gab, die um ſie warben. Indeſſen brachte man die arme Anna oben im Hauſe auf ein Zim- mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf ſie Acht haben und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz raſend, ſo, daß ſie alles zerriß, was ſie nur zu faſſen bekam; man rief alsdann den Schulmeiſter, weil man keine andre Manns- perſon, außer dem Knecht, im Hauſe hatte; dieſer konnte ſie bald zur Ruhe bringen, er hieß ſie nur Lore, dann hieß ſie ihn Faramund und war ſo zahm, wie ein Laͤmmchen. Ihr gewoͤhnlicher Zeitvertreib beſtand darin, daß ſie eine Schaͤferin vorſtellte; und dieſe Idee muß blos von obigem Lied hergekommen ſeyn, denn ſie hatte gewiß keine Schaͤfer- geſchichte oder Idyllen geleſen, ausgenommen einige Lieder, welche von der Art in Schmolls Hauſe ging und gaͤbe waren. Wenn man zu ihr hinaufkam, ſo hatte ſie ein weißes Hemd uͤber ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezuͤgelten Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte ſie ſich mit einem gruͤnen Band geguͤrtet, deſſen lang herabhaͤugendes Ende ſie ihrem Schaͤferhund, den ſie Philax hieß und der Niemand anders, als ihre alte Aufwaͤrterin war, um den Hals gebun- den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Haͤnden und Fuͤ- ßen herumkriechen und ſo gut bellen, als ſie konnte, wenn ſie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; oͤfters wars mit dem Bellen nicht genug, ſondern ſie mußte ſogar einen oder den andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau muͤde, die Hundsrolle zu ſpielen, allein ſie bekam alsdann derbe Schlaͤge,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/157
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/157>, abgerufen am 18.05.2024.