Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

dachte er oft bei sich selber. Niemand dauerte ihn mehr als
der alte Priam. Die Bilder und Schilderungen des Homers
waren so sehr nach seinem Geschmack, daß er sich nicht enthal-
ten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein so recht lebhaftes
Wort fand, das der Sache angemessen war; damals wär' die
rechte Zeit gewesen, den Ossian zu lesen.

Diese hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenursachen,
die ganze Gegend trug dazu bei. Man denke sich einen bis
zur höchsten Stufe des Enthusiasmus empfindsamen Geist,
dessen Geschmack natürlich und noch nach keiner Mode ge-
stimmt war, sondern der nichts als wahre Natur empfunden,
gesehen und studirt hatte, der ohne Sorge und Gram höchst
zufrieden mit seinem Zustand lebte, und allem Vergnügen offen
stand; ein solcher Geist liest den Homer in der schönsten
und natürlichsten Gegend von der Welt, und zwar des Mor-
gens in der Frühstunde. Man stelle sich die Lage dieses Orts
vor; er saß in der Schule an zwei Fenstern, die nach Osten
gekehrt waren; diese Schule stand an der Mittagsseite, am
Abhang des höchsten Hügels, um dieselbe her waren alte Bir-
ken mit schneeweißen Stämmen auf einen grünen Rasen ge-
pflanzt, deren dunkelgrüne Blätter beständig fort im ewigen
Winde flisperten. Gegen Sonnenaufgang war ein prächtiges
Wiesenthal, das sich an buschigte Hügel und Gebirge anschloß.
Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter demsel-
ben eine Wiese, und dann stieg unvermerkt eine Flur von Fel-
dern auf, die ein Wald begränzte. Gegen Abend in der Nähe
war der hohe Giller mit seinen tausend Eichen. Hier las
Stilling den Homer im Mai und Junius, wenn ohne
das die ganze halbe Welt schön ist und in der Kraft ihres
Erhalters jauchzt.

Ueber das alles waren auch seine Bauern gute, natürliche
Leute, die beständig mit alten Sagen und Erzählungen schwan-
ger gingen und bei jeder Gelegenheit damit herauskramten;
dadurch wurde der Schulmeister vollends recht mit seinem Ele-
ment genährt und zu Empfindungen aufgelegt. Er ging eins-
mals hinter der Schule den höchsten Hügel hinauf spazieren,
oben auf der Spitze traf er einen alten Bauern aus seinem

dachte er oft bei ſich ſelber. Niemand dauerte ihn mehr als
der alte Priam. Die Bilder und Schilderungen des Homers
waren ſo ſehr nach ſeinem Geſchmack, daß er ſich nicht enthal-
ten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein ſo recht lebhaftes
Wort fand, das der Sache angemeſſen war; damals waͤr’ die
rechte Zeit geweſen, den Oſſian zu leſen.

Dieſe hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenurſachen,
die ganze Gegend trug dazu bei. Man denke ſich einen bis
zur hoͤchſten Stufe des Enthuſiasmus empfindſamen Geiſt,
deſſen Geſchmack natuͤrlich und noch nach keiner Mode ge-
ſtimmt war, ſondern der nichts als wahre Natur empfunden,
geſehen und ſtudirt hatte, der ohne Sorge und Gram hoͤchſt
zufrieden mit ſeinem Zuſtand lebte, und allem Vergnuͤgen offen
ſtand; ein ſolcher Geiſt liest den Homer in der ſchoͤnſten
und natuͤrlichſten Gegend von der Welt, und zwar des Mor-
gens in der Fruͤhſtunde. Man ſtelle ſich die Lage dieſes Orts
vor; er ſaß in der Schule an zwei Fenſtern, die nach Oſten
gekehrt waren; dieſe Schule ſtand an der Mittagsſeite, am
Abhang des hoͤchſten Huͤgels, um dieſelbe her waren alte Bir-
ken mit ſchneeweißen Staͤmmen auf einen gruͤnen Raſen ge-
pflanzt, deren dunkelgruͤne Blaͤtter beſtaͤndig fort im ewigen
Winde flisperten. Gegen Sonnenaufgang war ein praͤchtiges
Wieſenthal, das ſich an buſchigte Huͤgel und Gebirge anſchloß.
Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter demſel-
ben eine Wieſe, und dann ſtieg unvermerkt eine Flur von Fel-
dern auf, die ein Wald begraͤnzte. Gegen Abend in der Naͤhe
war der hohe Giller mit ſeinen tauſend Eichen. Hier las
Stilling den Homer im Mai und Junius, wenn ohne
das die ganze halbe Welt ſchoͤn iſt und in der Kraft ihres
Erhalters jauchzt.

Ueber das alles waren auch ſeine Bauern gute, natuͤrliche
Leute, die beſtaͤndig mit alten Sagen und Erzaͤhlungen ſchwan-
ger gingen und bei jeder Gelegenheit damit herauskramten;
dadurch wurde der Schulmeiſter vollends recht mit ſeinem Ele-
ment genaͤhrt und zu Empfindungen aufgelegt. Er ging eins-
mals hinter der Schule den hoͤchſten Huͤgel hinauf ſpazieren,
oben auf der Spitze traf er einen alten Bauern aus ſeinem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0120" n="112"/>
dachte er oft bei &#x017F;ich &#x017F;elber. Niemand dauerte ihn mehr als<lb/>
der alte <hi rendition="#g">Priam</hi>. Die Bilder und Schilderungen des <hi rendition="#g">Homers</hi><lb/>
waren &#x017F;o &#x017F;ehr nach &#x017F;einem Ge&#x017F;chmack, daß er &#x017F;ich nicht enthal-<lb/>
ten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein &#x017F;o recht lebhaftes<lb/>
Wort fand, das der Sache angeme&#x017F;&#x017F;en war; damals wa&#x0364;r&#x2019; die<lb/>
rechte Zeit gewe&#x017F;en, den <hi rendition="#g">O&#x017F;&#x017F;ian</hi> zu le&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenur&#x017F;achen,<lb/>
die ganze Gegend trug dazu bei. Man denke &#x017F;ich einen bis<lb/>
zur ho&#x0364;ch&#x017F;ten Stufe des Enthu&#x017F;iasmus empfind&#x017F;amen Gei&#x017F;t,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;chmack natu&#x0364;rlich und noch nach <hi rendition="#g">keiner</hi> Mode ge-<lb/>
&#x017F;timmt war, &#x017F;ondern der nichts als <hi rendition="#g">wahre</hi> Natur empfunden,<lb/>
ge&#x017F;ehen und &#x017F;tudirt hatte, der ohne Sorge und Gram ho&#x0364;ch&#x017F;t<lb/>
zufrieden mit &#x017F;einem Zu&#x017F;tand lebte, und allem Vergnu&#x0364;gen offen<lb/>
&#x017F;tand; ein <hi rendition="#g">&#x017F;olcher</hi> Gei&#x017F;t liest den <hi rendition="#g">Homer</hi> in der &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten<lb/>
und natu&#x0364;rlich&#x017F;ten Gegend von der Welt, und zwar des Mor-<lb/>
gens in der Fru&#x0364;h&#x017F;tunde. Man &#x017F;telle &#x017F;ich die Lage die&#x017F;es Orts<lb/>
vor; er &#x017F;aß in der Schule an zwei Fen&#x017F;tern, die nach O&#x017F;ten<lb/>
gekehrt waren; die&#x017F;e Schule &#x017F;tand an der Mittags&#x017F;eite, am<lb/>
Abhang des ho&#x0364;ch&#x017F;ten Hu&#x0364;gels, um die&#x017F;elbe her waren alte Bir-<lb/>
ken mit &#x017F;chneeweißen Sta&#x0364;mmen auf einen gru&#x0364;nen Ra&#x017F;en ge-<lb/>
pflanzt, deren dunkelgru&#x0364;ne Bla&#x0364;tter be&#x017F;ta&#x0364;ndig fort im ewigen<lb/>
Winde flisperten. Gegen Sonnenaufgang war ein pra&#x0364;chtiges<lb/>
Wie&#x017F;enthal, das &#x017F;ich an bu&#x017F;chigte Hu&#x0364;gel und Gebirge an&#x017F;chloß.<lb/>
Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter dem&#x017F;el-<lb/>
ben eine Wie&#x017F;e, und dann &#x017F;tieg unvermerkt eine Flur von Fel-<lb/>
dern auf, die ein Wald begra&#x0364;nzte. Gegen Abend in der Na&#x0364;he<lb/>
war der hohe <hi rendition="#g">Giller</hi> mit &#x017F;einen tau&#x017F;end Eichen. Hier las<lb/><hi rendition="#g">Stilling</hi> den <hi rendition="#g">Homer</hi> im Mai und Junius, wenn ohne<lb/>
das die ganze halbe Welt &#x017F;cho&#x0364;n i&#x017F;t und in der Kraft ihres<lb/>
Erhalters jauchzt.</p><lb/>
            <p>Ueber das alles waren auch &#x017F;eine Bauern gute, natu&#x0364;rliche<lb/>
Leute, die be&#x017F;ta&#x0364;ndig mit alten Sagen und Erza&#x0364;hlungen &#x017F;chwan-<lb/>
ger gingen und bei jeder Gelegenheit damit herauskramten;<lb/>
dadurch wurde der Schulmei&#x017F;ter vollends recht mit &#x017F;einem Ele-<lb/>
ment gena&#x0364;hrt und zu Empfindungen aufgelegt. Er ging eins-<lb/>
mals hinter der Schule den ho&#x0364;ch&#x017F;ten Hu&#x0364;gel hinauf &#x017F;pazieren,<lb/>
oben auf der Spitze traf er einen alten Bauern aus &#x017F;einem<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0120] dachte er oft bei ſich ſelber. Niemand dauerte ihn mehr als der alte Priam. Die Bilder und Schilderungen des Homers waren ſo ſehr nach ſeinem Geſchmack, daß er ſich nicht enthal- ten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein ſo recht lebhaftes Wort fand, das der Sache angemeſſen war; damals waͤr’ die rechte Zeit geweſen, den Oſſian zu leſen. Dieſe hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenurſachen, die ganze Gegend trug dazu bei. Man denke ſich einen bis zur hoͤchſten Stufe des Enthuſiasmus empfindſamen Geiſt, deſſen Geſchmack natuͤrlich und noch nach keiner Mode ge- ſtimmt war, ſondern der nichts als wahre Natur empfunden, geſehen und ſtudirt hatte, der ohne Sorge und Gram hoͤchſt zufrieden mit ſeinem Zuſtand lebte, und allem Vergnuͤgen offen ſtand; ein ſolcher Geiſt liest den Homer in der ſchoͤnſten und natuͤrlichſten Gegend von der Welt, und zwar des Mor- gens in der Fruͤhſtunde. Man ſtelle ſich die Lage dieſes Orts vor; er ſaß in der Schule an zwei Fenſtern, die nach Oſten gekehrt waren; dieſe Schule ſtand an der Mittagsſeite, am Abhang des hoͤchſten Huͤgels, um dieſelbe her waren alte Bir- ken mit ſchneeweißen Staͤmmen auf einen gruͤnen Raſen ge- pflanzt, deren dunkelgruͤne Blaͤtter beſtaͤndig fort im ewigen Winde flisperten. Gegen Sonnenaufgang war ein praͤchtiges Wieſenthal, das ſich an buſchigte Huͤgel und Gebirge anſchloß. Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter demſel- ben eine Wieſe, und dann ſtieg unvermerkt eine Flur von Fel- dern auf, die ein Wald begraͤnzte. Gegen Abend in der Naͤhe war der hohe Giller mit ſeinen tauſend Eichen. Hier las Stilling den Homer im Mai und Junius, wenn ohne das die ganze halbe Welt ſchoͤn iſt und in der Kraft ihres Erhalters jauchzt. Ueber das alles waren auch ſeine Bauern gute, natuͤrliche Leute, die beſtaͤndig mit alten Sagen und Erzaͤhlungen ſchwan- ger gingen und bei jeder Gelegenheit damit herauskramten; dadurch wurde der Schulmeiſter vollends recht mit ſeinem Ele- ment genaͤhrt und zu Empfindungen aufgelegt. Er ging eins- mals hinter der Schule den hoͤchſten Huͤgel hinauf ſpazieren, oben auf der Spitze traf er einen alten Bauern aus ſeinem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/120
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/120>, abgerufen am 27.05.2024.