Schul gehalten; und so war's auch zu Zellberg. Stil- ling ging Freitags Morgens mit Sonnenaufgang hin und kam des Sonntags Abends wieder. Dieser Gang hatte für ihn etwas Unbeschreibliches; -- besonders wenn er des Mor- gens vor Sonnenaufgang auf der Höhe aufs Feld kam, und die Sonne dort aus der Ferne zwischen den buschigten Hügeln aufstieg; vor ihr her säuselte ein Windchen, und spielte mit seinen Locken; dann schmolz sein Herz, er weinte oft, und wünschte Engel zu sehen, wie Jakob zu Mahanaim. Wenn er nun da stand und in Wonnegefühl zerschmolz, so drehte er sich um und sah Tiefenbach unten im nächtlichen Nebel liegen. Zur Linken senkte sich ein großer Berg, der hitzige Stein genannt, vom Giller herunter, zur Rechten vorwärts lagen ganz nahe die Ruinen des Geisenberger Schlosses. Da traten dann alle Scenen, die da zwischen seinem Vater und seiner seligen Mutter, zwischen seinem Vater und ihm vorgegangen waren, als so viele vom herrlichsten Licht erleuch- tete Bilder vor seine Seele; er stand da wie ein Trunkener und überließ sich ganz der Empfindung. Dann schaute er in die Ferne; zwölf Meilen südwärts lag der Taunus oder Feld- berg nahe bei Frankfurt, acht bis neun Meilen westwärts lagen vor ihm die sieben Berge am Rhein, und so fort eine unzählbare Menge weniger berühmter Gebirge; aber nord- westlich lag ein hoher Berg, der mit seiner Spitze dem Giller fast gleich kam; dieser verdeckte Stillingen die Aussicht über die Schaubühne seiner künftigen großen Schicksale.
Hier war der Ort, wo Heinrich eine Stunde lang ver- weilen konnte, ohne sich selbst recht bewußt zu seyn; sein gan- zer Geist war Gebet, inniger Friede und Liebe gegen den All- mächtigen, der das Alles gemacht hatte.
Zuweilen wünschte er auch wohl ein Fürst zu seyn, um eine Stadt auf dieses Gefilde bauen zu können; alsofort stand sie schon da vor seiner Einbildung; auf der Antonius-Kirche hatte er seine Residenz, auf dem Höchsten sah er das Schloß der Stadt, so wie Montalban in den Holzschnitten im Buch von der schönen Melusine; dieses Schloß sollte Hein- richsburg heißen; wegen des Namens der Stadt stand er
Schul gehalten; und ſo war’s auch zu Zellberg. Stil- ling ging Freitags Morgens mit Sonnenaufgang hin und kam des Sonntags Abends wieder. Dieſer Gang hatte fuͤr ihn etwas Unbeſchreibliches; — beſonders wenn er des Mor- gens vor Sonnenaufgang auf der Hoͤhe aufs Feld kam, und die Sonne dort aus der Ferne zwiſchen den buſchigten Huͤgeln aufſtieg; vor ihr her ſaͤuſelte ein Windchen, und ſpielte mit ſeinen Locken; dann ſchmolz ſein Herz, er weinte oft, und wuͤnſchte Engel zu ſehen, wie Jakob zu Mahanaim. Wenn er nun da ſtand und in Wonnegefuͤhl zerſchmolz, ſo drehte er ſich um und ſah Tiefenbach unten im naͤchtlichen Nebel liegen. Zur Linken ſenkte ſich ein großer Berg, der hitzige Stein genannt, vom Giller herunter, zur Rechten vorwaͤrts lagen ganz nahe die Ruinen des Geiſenberger Schloſſes. Da traten dann alle Scenen, die da zwiſchen ſeinem Vater und ſeiner ſeligen Mutter, zwiſchen ſeinem Vater und ihm vorgegangen waren, als ſo viele vom herrlichſten Licht erleuch- tete Bilder vor ſeine Seele; er ſtand da wie ein Trunkener und uͤberließ ſich ganz der Empfindung. Dann ſchaute er in die Ferne; zwoͤlf Meilen ſuͤdwaͤrts lag der Taunus oder Feld- berg nahe bei Frankfurt, acht bis neun Meilen weſtwaͤrts lagen vor ihm die ſieben Berge am Rhein, und ſo fort eine unzaͤhlbare Menge weniger beruͤhmter Gebirge; aber nord- weſtlich lag ein hoher Berg, der mit ſeiner Spitze dem Giller faſt gleich kam; dieſer verdeckte Stillingen die Ausſicht uͤber die Schaubuͤhne ſeiner kuͤnftigen großen Schickſale.
Hier war der Ort, wo Heinrich eine Stunde lang ver- weilen konnte, ohne ſich ſelbſt recht bewußt zu ſeyn; ſein gan- zer Geiſt war Gebet, inniger Friede und Liebe gegen den All- maͤchtigen, der das Alles gemacht hatte.
Zuweilen wuͤnſchte er auch wohl ein Fuͤrſt zu ſeyn, um eine Stadt auf dieſes Gefilde bauen zu koͤnnen; alſofort ſtand ſie ſchon da vor ſeiner Einbildung; auf der Antonius-Kirche hatte er ſeine Reſidenz, auf dem Hoͤchſten ſah er das Schloß der Stadt, ſo wie Montalban in den Holzſchnitten im Buch von der ſchoͤnen Meluſine; dieſes Schloß ſollte Hein- richsburg heißen; wegen des Namens der Stadt ſtand er
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0118"n="110"/>
Schul gehalten; und ſo war’s auch zu <hirendition="#g">Zellberg. Stil-<lb/>
ling</hi> ging Freitags Morgens mit Sonnenaufgang hin und<lb/>
kam des Sonntags Abends wieder. Dieſer Gang hatte fuͤr<lb/>
ihn etwas Unbeſchreibliches; — beſonders wenn er des Mor-<lb/>
gens vor Sonnenaufgang auf der Hoͤhe aufs Feld kam, und<lb/>
die Sonne dort aus der Ferne zwiſchen den buſchigten Huͤgeln<lb/>
aufſtieg; vor ihr her ſaͤuſelte ein Windchen, und ſpielte mit<lb/>ſeinen Locken; dann ſchmolz ſein Herz, er weinte oft, und<lb/>
wuͤnſchte Engel zu ſehen, wie <hirendition="#g">Jakob</hi> zu <hirendition="#g">Mahanaim</hi>. Wenn<lb/>
er nun da ſtand und in Wonnegefuͤhl zerſchmolz, ſo drehte<lb/>
er ſich um und ſah <hirendition="#g">Tiefenbach</hi> unten im naͤchtlichen Nebel<lb/>
liegen. Zur Linken ſenkte ſich ein großer Berg, der <hirendition="#g">hitzige<lb/>
Stein</hi> genannt, vom <hirendition="#g">Giller</hi> herunter, zur Rechten vorwaͤrts<lb/>
lagen ganz nahe die Ruinen des <hirendition="#g">Geiſenberger</hi> Schloſſes.<lb/>
Da traten dann alle Scenen, die da zwiſchen ſeinem Vater<lb/>
und ſeiner ſeligen Mutter, zwiſchen ſeinem Vater und ihm<lb/>
vorgegangen waren, als ſo viele vom herrlichſten Licht erleuch-<lb/>
tete Bilder vor ſeine Seele; er ſtand da wie ein Trunkener und<lb/>
uͤberließ ſich ganz der Empfindung. Dann ſchaute er in die<lb/>
Ferne; zwoͤlf Meilen ſuͤdwaͤrts lag der <hirendition="#g">Taunus</hi> oder <hirendition="#g">Feld-<lb/>
berg</hi> nahe bei <hirendition="#g">Frankfurt</hi>, acht bis neun Meilen weſtwaͤrts<lb/>
lagen vor ihm die ſieben Berge am <hirendition="#g">Rhein</hi>, und ſo fort eine<lb/>
unzaͤhlbare Menge weniger beruͤhmter Gebirge; aber nord-<lb/>
weſtlich lag ein hoher Berg, der mit ſeiner Spitze dem <hirendition="#g">Giller</hi><lb/>
faſt gleich kam; dieſer verdeckte <hirendition="#g">Stillingen</hi> die Ausſicht uͤber<lb/>
die Schaubuͤhne ſeiner kuͤnftigen großen Schickſale.</p><lb/><p>Hier war der Ort, wo <hirendition="#g">Heinrich</hi> eine Stunde lang ver-<lb/>
weilen konnte, ohne ſich ſelbſt recht bewußt zu ſeyn; ſein gan-<lb/>
zer Geiſt war Gebet, inniger Friede und Liebe gegen den All-<lb/>
maͤchtigen, der das Alles gemacht hatte.</p><lb/><p>Zuweilen wuͤnſchte er auch wohl ein Fuͤrſt zu ſeyn, um eine<lb/>
Stadt auf dieſes Gefilde bauen zu koͤnnen; alſofort ſtand ſie<lb/>ſchon da vor ſeiner Einbildung; auf der <hirendition="#g">Antonius-Kirche</hi><lb/>
hatte er ſeine Reſidenz, auf dem <hirendition="#g">Hoͤchſten</hi>ſah er das Schloß<lb/>
der Stadt, ſo wie <hirendition="#g">Montalban</hi> in den Holzſchnitten im<lb/>
Buch von der ſchoͤnen <hirendition="#g">Meluſine</hi>; dieſes Schloß ſollte <hirendition="#g">Hein-<lb/>
richsburg</hi> heißen; wegen des Namens der Stadt ſtand er<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[110/0118]
Schul gehalten; und ſo war’s auch zu Zellberg. Stil-
ling ging Freitags Morgens mit Sonnenaufgang hin und
kam des Sonntags Abends wieder. Dieſer Gang hatte fuͤr
ihn etwas Unbeſchreibliches; — beſonders wenn er des Mor-
gens vor Sonnenaufgang auf der Hoͤhe aufs Feld kam, und
die Sonne dort aus der Ferne zwiſchen den buſchigten Huͤgeln
aufſtieg; vor ihr her ſaͤuſelte ein Windchen, und ſpielte mit
ſeinen Locken; dann ſchmolz ſein Herz, er weinte oft, und
wuͤnſchte Engel zu ſehen, wie Jakob zu Mahanaim. Wenn
er nun da ſtand und in Wonnegefuͤhl zerſchmolz, ſo drehte
er ſich um und ſah Tiefenbach unten im naͤchtlichen Nebel
liegen. Zur Linken ſenkte ſich ein großer Berg, der hitzige
Stein genannt, vom Giller herunter, zur Rechten vorwaͤrts
lagen ganz nahe die Ruinen des Geiſenberger Schloſſes.
Da traten dann alle Scenen, die da zwiſchen ſeinem Vater
und ſeiner ſeligen Mutter, zwiſchen ſeinem Vater und ihm
vorgegangen waren, als ſo viele vom herrlichſten Licht erleuch-
tete Bilder vor ſeine Seele; er ſtand da wie ein Trunkener und
uͤberließ ſich ganz der Empfindung. Dann ſchaute er in die
Ferne; zwoͤlf Meilen ſuͤdwaͤrts lag der Taunus oder Feld-
berg nahe bei Frankfurt, acht bis neun Meilen weſtwaͤrts
lagen vor ihm die ſieben Berge am Rhein, und ſo fort eine
unzaͤhlbare Menge weniger beruͤhmter Gebirge; aber nord-
weſtlich lag ein hoher Berg, der mit ſeiner Spitze dem Giller
faſt gleich kam; dieſer verdeckte Stillingen die Ausſicht uͤber
die Schaubuͤhne ſeiner kuͤnftigen großen Schickſale.
Hier war der Ort, wo Heinrich eine Stunde lang ver-
weilen konnte, ohne ſich ſelbſt recht bewußt zu ſeyn; ſein gan-
zer Geiſt war Gebet, inniger Friede und Liebe gegen den All-
maͤchtigen, der das Alles gemacht hatte.
Zuweilen wuͤnſchte er auch wohl ein Fuͤrſt zu ſeyn, um eine
Stadt auf dieſes Gefilde bauen zu koͤnnen; alſofort ſtand ſie
ſchon da vor ſeiner Einbildung; auf der Antonius-Kirche
hatte er ſeine Reſidenz, auf dem Hoͤchſten ſah er das Schloß
der Stadt, ſo wie Montalban in den Holzſchnitten im
Buch von der ſchoͤnen Meluſine; dieſes Schloß ſollte Hein-
richsburg heißen; wegen des Namens der Stadt ſtand er
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/118>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.