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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
bei den gegen den Besitzer als solchen gerichteten Klagen, der im
neuern Recht ein Stück der Klage selbst geworden ist, und der
dem ältesten Rechte gänzlich fehlte, ist historisch zuerst durch den
Prätor eingeführt worden in Form eines besonderen unvollkomm-
neren Rechtsmittels (act. in factum propter alienationem ju-
dicii mutandi causa factam
).

In diesem Fall ist uns zufälligerweise die Kunde über die
Umgestaltung der Klage erhalten; in wie vielen Fällen, wo
letztere sich auf dem innerlichen Wege einer freieren Interpreta-
tion vollzog, 9) mag sie uns verloren sein! Es wird daher ge-
rathen sein, nicht jede Klage in der Form, wie sie uns im neuern
Recht erhalten ist, ohne weiteres dem ältern Recht zu überwei-
sen, vielmehr nach Maßgabe der folgenden Untersuchung Kritik
zu üben.

Dem obigen Beispiel der act. pluv. arc. schließt sich am
nächsten an eine Reihe von Fällen, in denen es sich um Aner-
kennung eines gestörten sachenrechtlichen Verhältnisses (Besitz,
Eigenthum, Servitut) handelt. Auch hier geht die Klage nicht
auf Ersatz des durch die Störung angerichteten Schadens, 10)

9) So z. B. kann der Servitutberechtigte die Duldung nöthiger Repa-
raturen des Weges nach der Ansicht der klassischen Juristen durch die act.
confess.
erzwingen, L. 4 §. 5 si serv. (8. 5), während das Edict dafür ein
eignes Interdict für nöthig gehalten hatte, bei dem der Beweissatz nicht etwa
leichter, sondern strenger, als bei jener Klage gewesen war (Beweis des
Rechts und der Ausübung) L. 3 §. 11. 16 L. 4 de itin. (43. 19).
10) Interd. uti possidetis: arg. L. 3 de interd. (43. 1), L. 8 §. 4
de prec. (43. 26), L. 3 §. 11 uti poss.
(43. 17). Daß für die "vergangene
Zeit Schadensersatz geleistet werden muß" versteht sich nach Savigny Recht
des Besitzes (§. 39) beim Interd. utrubi von selbst, beim uti poss. (§. 38)
beruft er sich auf die letztere Stelle, welche lediglich von dem quanti interest
possessionem retinere
d. h. dem Interesse des gegenwärtigen Besitzes
spricht -- so wenig ist selbst den Koryphäen unserer Wissenschaft das richtige
Verständniß des römischen Klagensystems aufgegangen! -- Rücksichtlich der
reivindicatio wird schwerlich Jemand, der eine Idee von der Bedeutung rö-
mischer Klagformeln hat, glauben, daß eine Klage mit der Intention: rem
meam esse
auf Schadensersatz für die Vergangenheit hätte gerichtet werden

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
bei den gegen den Beſitzer als ſolchen gerichteten Klagen, der im
neuern Recht ein Stück der Klage ſelbſt geworden iſt, und der
dem älteſten Rechte gänzlich fehlte, iſt hiſtoriſch zuerſt durch den
Prätor eingeführt worden in Form eines beſonderen unvollkomm-
neren Rechtsmittels (act. in factum propter alienationem ju-
dicii mutandi causa factam
).

In dieſem Fall iſt uns zufälligerweiſe die Kunde über die
Umgeſtaltung der Klage erhalten; in wie vielen Fällen, wo
letztere ſich auf dem innerlichen Wege einer freieren Interpreta-
tion vollzog, 9) mag ſie uns verloren ſein! Es wird daher ge-
rathen ſein, nicht jede Klage in der Form, wie ſie uns im neuern
Recht erhalten iſt, ohne weiteres dem ältern Recht zu überwei-
ſen, vielmehr nach Maßgabe der folgenden Unterſuchung Kritik
zu üben.

Dem obigen Beiſpiel der act. pluv. arc. ſchließt ſich am
nächſten an eine Reihe von Fällen, in denen es ſich um Aner-
kennung eines geſtörten ſachenrechtlichen Verhältniſſes (Beſitz,
Eigenthum, Servitut) handelt. Auch hier geht die Klage nicht
auf Erſatz des durch die Störung angerichteten Schadens, 10)

9) So z. B. kann der Servitutberechtigte die Duldung nöthiger Repa-
raturen des Weges nach der Anſicht der klaſſiſchen Juriſten durch die act.
confess.
erzwingen, L. 4 §. 5 si serv. (8. 5), während das Edict dafür ein
eignes Interdict für nöthig gehalten hatte, bei dem der Beweisſatz nicht etwa
leichter, ſondern ſtrenger, als bei jener Klage geweſen war (Beweis des
Rechts und der Ausübung) L. 3 §. 11. 16 L. 4 de itin. (43. 19).
10) Interd. uti possidetis: arg. L. 3 de interd. (43. 1), L. 8 §. 4
de prec. (43. 26), L. 3 §. 11 uti poss.
(43. 17). Daß für die „vergangene
Zeit Schadenserſatz geleiſtet werden muß“ verſteht ſich nach Savigny Recht
des Beſitzes (§. 39) beim Interd. utrubi von ſelbſt, beim uti poss. (§. 38)
beruft er ſich auf die letztere Stelle, welche lediglich von dem quanti interest
possessionem retinere
d. h. dem Intereſſe des gegenwärtigen Beſitzes
ſpricht — ſo wenig iſt ſelbſt den Koryphäen unſerer Wiſſenſchaft das richtige
Verſtändniß des römiſchen Klagenſyſtems aufgegangen! — Rückſichtlich der
reivindicatio wird ſchwerlich Jemand, der eine Idee von der Bedeutung rö-
miſcher Klagformeln hat, glauben, daß eine Klage mit der Intention: rem
meam esse
auf Schadenserſatz für die Vergangenheit hätte gerichtet werden
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[30/0046] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. bei den gegen den Beſitzer als ſolchen gerichteten Klagen, der im neuern Recht ein Stück der Klage ſelbſt geworden iſt, und der dem älteſten Rechte gänzlich fehlte, iſt hiſtoriſch zuerſt durch den Prätor eingeführt worden in Form eines beſonderen unvollkomm- neren Rechtsmittels (act. in factum propter alienationem ju- dicii mutandi causa factam). In dieſem Fall iſt uns zufälligerweiſe die Kunde über die Umgeſtaltung der Klage erhalten; in wie vielen Fällen, wo letztere ſich auf dem innerlichen Wege einer freieren Interpreta- tion vollzog, 9) mag ſie uns verloren ſein! Es wird daher ge- rathen ſein, nicht jede Klage in der Form, wie ſie uns im neuern Recht erhalten iſt, ohne weiteres dem ältern Recht zu überwei- ſen, vielmehr nach Maßgabe der folgenden Unterſuchung Kritik zu üben. Dem obigen Beiſpiel der act. pluv. arc. ſchließt ſich am nächſten an eine Reihe von Fällen, in denen es ſich um Aner- kennung eines geſtörten ſachenrechtlichen Verhältniſſes (Beſitz, Eigenthum, Servitut) handelt. Auch hier geht die Klage nicht auf Erſatz des durch die Störung angerichteten Schadens, 10) 9) So z. B. kann der Servitutberechtigte die Duldung nöthiger Repa- raturen des Weges nach der Anſicht der klaſſiſchen Juriſten durch die act. confess. erzwingen, L. 4 §. 5 si serv. (8. 5), während das Edict dafür ein eignes Interdict für nöthig gehalten hatte, bei dem der Beweisſatz nicht etwa leichter, ſondern ſtrenger, als bei jener Klage geweſen war (Beweis des Rechts und der Ausübung) L. 3 §. 11. 16 L. 4 de itin. (43. 19). 10) Interd. uti possidetis: arg. L. 3 de interd. (43. 1), L. 8 §. 4 de prec. (43. 26), L. 3 §. 11 uti poss. (43. 17). Daß für die „vergangene Zeit Schadenserſatz geleiſtet werden muß“ verſteht ſich nach Savigny Recht des Beſitzes (§. 39) beim Interd. utrubi von ſelbſt, beim uti poss. (§. 38) beruft er ſich auf die letztere Stelle, welche lediglich von dem quanti interest possessionem retinere d. h. dem Intereſſe des gegenwärtigen Beſitzes ſpricht — ſo wenig iſt ſelbſt den Koryphäen unſerer Wiſſenſchaft das richtige Verſtändniß des römiſchen Klagenſyſtems aufgegangen! — Rückſichtlich der reivindicatio wird ſchwerlich Jemand, der eine Idee von der Bedeutung rö- miſcher Klagformeln hat, glauben, daß eine Klage mit der Intention: rem meam esse auf Schadenserſatz für die Vergangenheit hätte gerichtet werden

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/46>, abgerufen am 29.03.2024.