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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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A. Der Proceß. Analytische Structur desselben. §. 50.
während desselben wahrnimmt, sondern auf den der Litisconte-
station, ohne von da aus den Blick weder vorwärts noch rück-
wärts zu wenden. Diese letztere Behandlungsweise enthält aber-
mals einen Anwendungsfall der analytischen Methode, was
auf den ersten Blick nicht so einleuchtend ist. Wie die Actio dem
Rechtsverhältniß, verfährt sie dem Thatbestande der Klage ge-
genüber; beide nämlich scheiden aus einem Ganzen ein Stück
aus: jene aus einem Gedanken-Ganzen, diese aus einem
Zeit-Ganzen, jene den Thatbestand der Klage, diese den flüchti-
gen Moment. Wie bei einem Lichtbilde wird derselbe aufgefan-
gen und fixirt, und wie immerhin auch der Gegenstand selbst sich
ändere, der Richter hält sich lediglich an den fixirten Moment, an
das Bild. So setzt sich in dieser Ausscheidung der Ausschei-
dungsproceß, der mit der Klage beginnt, nur fort, denn von dem
Thatbestande der Klage, den letztere aus dem Gesammtrechtsver-
hältniß der Partheien ausgesondert hat, sondert jene wiederum
einen einzelnen Daseinsmoment aus -- eine punktualisirende Be-
handlungsweise, die das ältere Recht, wie wir an anderer Stelle
zeigen werden, auch bei dem Rechtsgeschäft streng festhält, wäh-
rend das neuere in beiden Anwendungsfällen den Zeitraum
an Stelle des Zeitpunktes setzt.

In ungleich höherem Grade als bei dem Streitgegen-
stande
ist diese Fixirung beim Streit selbst erforderlich. Wir
können uns auch hier zwei Möglichkeiten denken: die eine, welche
den Streit bis zum Moment des Urtheils im Zustande der Flüs-
sigkeit, des Fluctuirens verharren läßt, die andere, welche ihn
schon vorher in feste Formen zwingt, ihn stückweise, so zu sagen,
erstarren läßt. Bei jener Behandlungsweise würde alles, was
bis zum Urtheil geschähe, noch rechtzeitig geschehen -- während
des Processes, könnte man sagen, geschehe nichts, sondern
es bereite sich bloß ein künftiges Geschehen vor, es häufe und
sammle sich bloß das Material zum Urtheil; in welchen Mo-
ment des Processes die einzelnen Behauptungen und Beweise
fielen, wäre gleichgültig, Nachträge und Berichtigungen wären

A. Der Proceß. Analytiſche Structur deſſelben. §. 50.
während deſſelben wahrnimmt, ſondern auf den der Litisconte-
ſtation, ohne von da aus den Blick weder vorwärts noch rück-
wärts zu wenden. Dieſe letztere Behandlungsweiſe enthält aber-
mals einen Anwendungsfall der analytiſchen Methode, was
auf den erſten Blick nicht ſo einleuchtend iſt. Wie die Actio dem
Rechtsverhältniß, verfährt ſie dem Thatbeſtande der Klage ge-
genüber; beide nämlich ſcheiden aus einem Ganzen ein Stück
aus: jene aus einem Gedanken-Ganzen, dieſe aus einem
Zeit-Ganzen, jene den Thatbeſtand der Klage, dieſe den flüchti-
gen Moment. Wie bei einem Lichtbilde wird derſelbe aufgefan-
gen und fixirt, und wie immerhin auch der Gegenſtand ſelbſt ſich
ändere, der Richter hält ſich lediglich an den fixirten Moment, an
das Bild. So ſetzt ſich in dieſer Ausſcheidung der Ausſchei-
dungsproceß, der mit der Klage beginnt, nur fort, denn von dem
Thatbeſtande der Klage, den letztere aus dem Geſammtrechtsver-
hältniß der Partheien ausgeſondert hat, ſondert jene wiederum
einen einzelnen Daſeinsmoment aus — eine punktualiſirende Be-
handlungsweiſe, die das ältere Recht, wie wir an anderer Stelle
zeigen werden, auch bei dem Rechtsgeſchäft ſtreng feſthält, wäh-
rend das neuere in beiden Anwendungsfällen den Zeitraum
an Stelle des Zeitpunktes ſetzt.

In ungleich höherem Grade als bei dem Streitgegen-
ſtande
iſt dieſe Fixirung beim Streit ſelbſt erforderlich. Wir
können uns auch hier zwei Möglichkeiten denken: die eine, welche
den Streit bis zum Moment des Urtheils im Zuſtande der Flüſ-
ſigkeit, des Fluctuirens verharren läßt, die andere, welche ihn
ſchon vorher in feſte Formen zwingt, ihn ſtückweiſe, ſo zu ſagen,
erſtarren läßt. Bei jener Behandlungsweiſe würde alles, was
bis zum Urtheil geſchähe, noch rechtzeitig geſchehen — während
des Proceſſes, könnte man ſagen, geſchehe nichts, ſondern
es bereite ſich bloß ein künftiges Geſchehen vor, es häufe und
ſammle ſich bloß das Material zum Urtheil; in welchen Mo-
ment des Proceſſes die einzelnen Behauptungen und Beweiſe
fielen, wäre gleichgültig, Nachträge und Berichtigungen wären

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[25/0041] A. Der Proceß. Analytiſche Structur deſſelben. §. 50. während deſſelben wahrnimmt, ſondern auf den der Litisconte- ſtation, ohne von da aus den Blick weder vorwärts noch rück- wärts zu wenden. Dieſe letztere Behandlungsweiſe enthält aber- mals einen Anwendungsfall der analytiſchen Methode, was auf den erſten Blick nicht ſo einleuchtend iſt. Wie die Actio dem Rechtsverhältniß, verfährt ſie dem Thatbeſtande der Klage ge- genüber; beide nämlich ſcheiden aus einem Ganzen ein Stück aus: jene aus einem Gedanken-Ganzen, dieſe aus einem Zeit-Ganzen, jene den Thatbeſtand der Klage, dieſe den flüchti- gen Moment. Wie bei einem Lichtbilde wird derſelbe aufgefan- gen und fixirt, und wie immerhin auch der Gegenſtand ſelbſt ſich ändere, der Richter hält ſich lediglich an den fixirten Moment, an das Bild. So ſetzt ſich in dieſer Ausſcheidung der Ausſchei- dungsproceß, der mit der Klage beginnt, nur fort, denn von dem Thatbeſtande der Klage, den letztere aus dem Geſammtrechtsver- hältniß der Partheien ausgeſondert hat, ſondert jene wiederum einen einzelnen Daſeinsmoment aus — eine punktualiſirende Be- handlungsweiſe, die das ältere Recht, wie wir an anderer Stelle zeigen werden, auch bei dem Rechtsgeſchäft ſtreng feſthält, wäh- rend das neuere in beiden Anwendungsfällen den Zeitraum an Stelle des Zeitpunktes ſetzt. In ungleich höherem Grade als bei dem Streitgegen- ſtande iſt dieſe Fixirung beim Streit ſelbſt erforderlich. Wir können uns auch hier zwei Möglichkeiten denken: die eine, welche den Streit bis zum Moment des Urtheils im Zuſtande der Flüſ- ſigkeit, des Fluctuirens verharren läßt, die andere, welche ihn ſchon vorher in feſte Formen zwingt, ihn ſtückweiſe, ſo zu ſagen, erſtarren läßt. Bei jener Behandlungsweiſe würde alles, was bis zum Urtheil geſchähe, noch rechtzeitig geſchehen — während des Proceſſes, könnte man ſagen, geſchehe nichts, ſondern es bereite ſich bloß ein künftiges Geſchehen vor, es häufe und ſammle ſich bloß das Material zum Urtheil; in welchen Mo- ment des Proceſſes die einzelnen Behauptungen und Beweiſe fielen, wäre gleichgültig, Nachträge und Berichtigungen wären

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/41>, abgerufen am 28.03.2024.