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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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I. Substant. Moment des Rechts. -- Willensformalismus. §. 60.
gen und zu üben, der Wille ist das Organ, durch welches der
Mensch das Recht genießt, der Genuß besteht darin, daß er die
Freude und Herrlichkeit der Macht empfindet, die Genugthuung
hat, einen Willensakt vollzogen, z. B. eine Hypothek bestellt,
eine Klage cedirt und damit sich als Rechtspersönlichkeit doku-
mentirt zu haben.439) Welch' armseliges Ding aber um den
Willen, wenn die nüchternen und niedern Regionen des Rechts
das eigentliche Gebiet seiner Thätigkeit bezeichneten! Das wahre
Reich des Willens, die Sphäre der schöpferisch gestaltenden Macht
der Persönlichkeit fängt erst da an, wo jene aufhören; die Rechte
sind nicht der Stoff, das Object, sondern die Voraus-
setzung
des wahren Wollens, nicht das Ziel, sondern das
Mittel. Wäre das Wollen Zweck des Rechts, was sollten Rechte
in Händen willenloser Personen? Sie würden hier ja ihren
Zweck, ihre Bestimmung gänzlich verfehlen -- eine Brille für
einen Blinden!

Wenn die Persönlichkeit und Rechtsfähigkeit mit der Willens-
fähigkeit zusammenfällt, wie verträgt es sich, daß alle Rechte der
Welt (mir ist wenigstens keins bekannt, das es nicht gethan hätte)
in den Kindern und Wahnsinnigen nicht bloß das rein Mensch-
liche der Persönlichkeit: Leib und Leben anerkennen und schützen,
sondern ihnen auch mit geringen Modificationen dieselbe Ver-
mögensfähigkeit zugestehen, wie den willensfähigen Personen?
Es ist eine leidige Ausflucht, die nicht Stich hält: das Gesetz
respectire in ihnen die Möglichkeit künftiger Willensfähigkeit,

439) Hegel Rechtsphil. (Aufl. 2. S. 111) deducirt das Interesse des
Vertrages dadurch: "daß es das Interesse der Vernunft sei, daß der subjec-
tive Wille allgemein werde und sich zu dieser Verwirklichung erhebe."
Daß das "Bedürfniß, das Wohlwollen, der Nutzen u. s. w. es sei, was die
Menschen zu Verträgen führe", weist er damit zurück, daß dies nur für "ihr Be-
wußtsein" gelte, d. i. ein bloßes subjectives Motiv sei, in Wirklichkeit sei es "die
Vernunft an sich, nämlich die Idee des reellen, d. i. nur im Willen vorhan-
denen Daseins der freien Persönlichkeit." Das "Wohl ist dem Rechte als
solchem ein Aeußerliches" (S. 287), "die Beförderung des Wohls ist Sache
der Polizei" (S. 288).

I. Subſtant. Moment des Rechts. — Willensformalismus. §. 60.
gen und zu üben, der Wille iſt das Organ, durch welches der
Menſch das Recht genießt, der Genuß beſteht darin, daß er die
Freude und Herrlichkeit der Macht empfindet, die Genugthuung
hat, einen Willensakt vollzogen, z. B. eine Hypothek beſtellt,
eine Klage cedirt und damit ſich als Rechtsperſönlichkeit doku-
mentirt zu haben.439) Welch’ armſeliges Ding aber um den
Willen, wenn die nüchternen und niedern Regionen des Rechts
das eigentliche Gebiet ſeiner Thätigkeit bezeichneten! Das wahre
Reich des Willens, die Sphäre der ſchöpferiſch geſtaltenden Macht
der Perſönlichkeit fängt erſt da an, wo jene aufhören; die Rechte
ſind nicht der Stoff, das Object, ſondern die Voraus-
ſetzung
des wahren Wollens, nicht das Ziel, ſondern das
Mittel. Wäre das Wollen Zweck des Rechts, was ſollten Rechte
in Händen willenloſer Perſonen? Sie würden hier ja ihren
Zweck, ihre Beſtimmung gänzlich verfehlen — eine Brille für
einen Blinden!

Wenn die Perſönlichkeit und Rechtsfähigkeit mit der Willens-
fähigkeit zuſammenfällt, wie verträgt es ſich, daß alle Rechte der
Welt (mir iſt wenigſtens keins bekannt, das es nicht gethan hätte)
in den Kindern und Wahnſinnigen nicht bloß das rein Menſch-
liche der Perſönlichkeit: Leib und Leben anerkennen und ſchützen,
ſondern ihnen auch mit geringen Modificationen dieſelbe Ver-
mögensfähigkeit zugeſtehen, wie den willensfähigen Perſonen?
Es iſt eine leidige Ausflucht, die nicht Stich hält: das Geſetz
reſpectire in ihnen die Möglichkeit künftiger Willensfähigkeit,

439) Hegel Rechtsphil. (Aufl. 2. S. 111) deducirt das Intereſſe des
Vertrages dadurch: „daß es das Intereſſe der Vernunft ſei, daß der ſubjec-
tive Wille allgemein werde und ſich zu dieſer Verwirklichung erhebe.“
Daß das „Bedürfniß, das Wohlwollen, der Nutzen u. ſ. w. es ſei, was die
Menſchen zu Verträgen führe“, weiſt er damit zurück, daß dies nur für „ihr Be-
wußtſein“ gelte, d. i. ein bloßes ſubjectives Motiv ſei, in Wirklichkeit ſei es „die
Vernunft an ſich, nämlich die Idee des reellen, d. i. nur im Willen vorhan-
denen Daſeins der freien Perſönlichkeit.“ Das „Wohl iſt dem Rechte als
ſolchem ein Aeußerliches“ (S. 287), „die Beförderung des Wohls iſt Sache
der Polizei“ (S. 288).
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[311/0327] I. Subſtant. Moment des Rechts. — Willensformalismus. §. 60. gen und zu üben, der Wille iſt das Organ, durch welches der Menſch das Recht genießt, der Genuß beſteht darin, daß er die Freude und Herrlichkeit der Macht empfindet, die Genugthuung hat, einen Willensakt vollzogen, z. B. eine Hypothek beſtellt, eine Klage cedirt und damit ſich als Rechtsperſönlichkeit doku- mentirt zu haben. 439) Welch’ armſeliges Ding aber um den Willen, wenn die nüchternen und niedern Regionen des Rechts das eigentliche Gebiet ſeiner Thätigkeit bezeichneten! Das wahre Reich des Willens, die Sphäre der ſchöpferiſch geſtaltenden Macht der Perſönlichkeit fängt erſt da an, wo jene aufhören; die Rechte ſind nicht der Stoff, das Object, ſondern die Voraus- ſetzung des wahren Wollens, nicht das Ziel, ſondern das Mittel. Wäre das Wollen Zweck des Rechts, was ſollten Rechte in Händen willenloſer Perſonen? Sie würden hier ja ihren Zweck, ihre Beſtimmung gänzlich verfehlen — eine Brille für einen Blinden! Wenn die Perſönlichkeit und Rechtsfähigkeit mit der Willens- fähigkeit zuſammenfällt, wie verträgt es ſich, daß alle Rechte der Welt (mir iſt wenigſtens keins bekannt, das es nicht gethan hätte) in den Kindern und Wahnſinnigen nicht bloß das rein Menſch- liche der Perſönlichkeit: Leib und Leben anerkennen und ſchützen, ſondern ihnen auch mit geringen Modificationen dieſelbe Ver- mögensfähigkeit zugeſtehen, wie den willensfähigen Perſonen? Es iſt eine leidige Ausflucht, die nicht Stich hält: das Geſetz reſpectire in ihnen die Möglichkeit künftiger Willensfähigkeit, 439) Hegel Rechtsphil. (Aufl. 2. S. 111) deducirt das Intereſſe des Vertrages dadurch: „daß es das Intereſſe der Vernunft ſei, daß der ſubjec- tive Wille allgemein werde und ſich zu dieſer Verwirklichung erhebe.“ Daß das „Bedürfniß, das Wohlwollen, der Nutzen u. ſ. w. es ſei, was die Menſchen zu Verträgen führe“, weiſt er damit zurück, daß dies nur für „ihr Be- wußtſein“ gelte, d. i. ein bloßes ſubjectives Motiv ſei, in Wirklichkeit ſei es „die Vernunft an ſich, nämlich die Idee des reellen, d. i. nur im Willen vorhan- denen Daſeins der freien Perſönlichkeit.“ Das „Wohl iſt dem Rechte als ſolchem ein Aeußerliches“ (S. 287), „die Beförderung des Wohls iſt Sache der Polizei“ (S. 288).

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/327>, abgerufen am 22.11.2024.