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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
was sie waren: zwei einseitige über einander geschobene Ge-
schäfte. Darum ist es nicht Zufall, nicht eine bloße Reminiscenz
an die ehemalige Structur derselben, daß die Römer zu deren
Bezeichnung stets den Doppelnamen: emtio venditio, locatio
conductio
gebrauchen, sondern es prägt sich darin das wahre
Wesen, die juristische Structur dieser Geschäfte auch vom Stand-
punkt des neuern Rechts aus. Erst in unserer Zeit hat die rich-
tige Erkenntniß davon zu tagen begonnen, 256) aber es fehlt noch
viel, daß man überall mit den Irrthümern, die die bisher herr-
schende Auffassung mit Nothwendigkeit in ihrem Gefolge haben
mußte, aufgeräumt hätte. 257)

Auch für diejenigen wesentlich oder zufällig zweiseitigen Ge-
schäfte, welche die Römer mit einem Namen bezeichneten, wie
z. B. die societas, das mandatum u. a. wiederholt sich derselbe
Mechanismus, dieselben können für den einen Theil von vorn-
herein ungültig, für den andern gültig sein, für den einen fort-
dauern, für den andern nicht. Bei diesem partiellen Bestehen
nimmt der nicht zur juristischen Existenz gelangte Gegenanspruch
des andern Theils den Charakter einer Bedingung der Rea-
lisirung des gegnerischen Anspruchs an -- eine Art der indirecten
Verpflichtung des Gegners, auf welche die römischen Juristen
den Ausdruck: obligatio naturalis ausgedehnt haben. Das
Verhältniß ist aber in Wirklichkeit kein anderes, als bei der

256) Brandis, Zeitschr. f. Civilr. u. Proc. B. 7 S. 138 fl. Dern-
burg
, Compensation S. 70 ff.
257) So z. B. in der Lehre von dem Irrthum, für welche Savigny
System B. 3 S. 294 die Behauptung aufstellt, daß auch der Verkäufer we-
gen Irrthums des Käufers von seiner Verbindlichkeit frei werde. Bei der
Ehe würde dies richtig sein, denn eine Ehe kann nicht für den einen Theil
nichtig, für den andern gültig sein, die Eingehung der Ehe enthält einen wirk-
lich zweiseitigen Vertrag, bei dem die Wirkungen für beide Theile sich gegen-
seitig bedingen. Dies gilt aber für den Kauf und Miethcontract nicht, eben
weil beide nur ein Compositum von zwei Verträgen sind, es kann eine emtio
ohne venditio, eine venditio ohne emtio geben. Die weitere Ausführung
würde uns hier zu sehr ins dogmatische Detail führen.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
was ſie waren: zwei einſeitige über einander geſchobene Ge-
ſchäfte. Darum iſt es nicht Zufall, nicht eine bloße Reminiscenz
an die ehemalige Structur derſelben, daß die Römer zu deren
Bezeichnung ſtets den Doppelnamen: emtio venditio, locatio
conductio
gebrauchen, ſondern es prägt ſich darin das wahre
Weſen, die juriſtiſche Structur dieſer Geſchäfte auch vom Stand-
punkt des neuern Rechts aus. Erſt in unſerer Zeit hat die rich-
tige Erkenntniß davon zu tagen begonnen, 256) aber es fehlt noch
viel, daß man überall mit den Irrthümern, die die bisher herr-
ſchende Auffaſſung mit Nothwendigkeit in ihrem Gefolge haben
mußte, aufgeräumt hätte. 257)

Auch für diejenigen weſentlich oder zufällig zweiſeitigen Ge-
ſchäfte, welche die Römer mit einem Namen bezeichneten, wie
z. B. die societas, das mandatum u. a. wiederholt ſich derſelbe
Mechanismus, dieſelben können für den einen Theil von vorn-
herein ungültig, für den andern gültig ſein, für den einen fort-
dauern, für den andern nicht. Bei dieſem partiellen Beſtehen
nimmt der nicht zur juriſtiſchen Exiſtenz gelangte Gegenanſpruch
des andern Theils den Charakter einer Bedingung der Rea-
liſirung des gegneriſchen Anſpruchs an — eine Art der indirecten
Verpflichtung des Gegners, auf welche die römiſchen Juriſten
den Ausdruck: obligatio naturalis ausgedehnt haben. Das
Verhältniß iſt aber in Wirklichkeit kein anderes, als bei der

256) Brandis, Zeitſchr. f. Civilr. u. Proc. B. 7 S. 138 fl. Dern-
burg
, Compenſation S. 70 ff.
257) So z. B. in der Lehre von dem Irrthum, für welche Savigny
Syſtem B. 3 S. 294 die Behauptung aufſtellt, daß auch der Verkäufer we-
gen Irrthums des Käufers von ſeiner Verbindlichkeit frei werde. Bei der
Ehe würde dies richtig ſein, denn eine Ehe kann nicht für den einen Theil
nichtig, für den andern gültig ſein, die Eingehung der Ehe enthält einen wirk-
lich zweiſeitigen Vertrag, bei dem die Wirkungen für beide Theile ſich gegen-
ſeitig bedingen. Dies gilt aber für den Kauf und Miethcontract nicht, eben
weil beide nur ein Compoſitum von zwei Verträgen ſind, es kann eine emtio
ohne venditio, eine venditio ohne emtio geben. Die weitere Ausführung
würde uns hier zu ſehr ins dogmatiſche Detail führen.
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[192/0208] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. was ſie waren: zwei einſeitige über einander geſchobene Ge- ſchäfte. Darum iſt es nicht Zufall, nicht eine bloße Reminiscenz an die ehemalige Structur derſelben, daß die Römer zu deren Bezeichnung ſtets den Doppelnamen: emtio venditio, locatio conductio gebrauchen, ſondern es prägt ſich darin das wahre Weſen, die juriſtiſche Structur dieſer Geſchäfte auch vom Stand- punkt des neuern Rechts aus. Erſt in unſerer Zeit hat die rich- tige Erkenntniß davon zu tagen begonnen, 256) aber es fehlt noch viel, daß man überall mit den Irrthümern, die die bisher herr- ſchende Auffaſſung mit Nothwendigkeit in ihrem Gefolge haben mußte, aufgeräumt hätte. 257) Auch für diejenigen weſentlich oder zufällig zweiſeitigen Ge- ſchäfte, welche die Römer mit einem Namen bezeichneten, wie z. B. die societas, das mandatum u. a. wiederholt ſich derſelbe Mechanismus, dieſelben können für den einen Theil von vorn- herein ungültig, für den andern gültig ſein, für den einen fort- dauern, für den andern nicht. Bei dieſem partiellen Beſtehen nimmt der nicht zur juriſtiſchen Exiſtenz gelangte Gegenanſpruch des andern Theils den Charakter einer Bedingung der Rea- liſirung des gegneriſchen Anſpruchs an — eine Art der indirecten Verpflichtung des Gegners, auf welche die römiſchen Juriſten den Ausdruck: obligatio naturalis ausgedehnt haben. Das Verhältniß iſt aber in Wirklichkeit kein anderes, als bei der 256) Brandis, Zeitſchr. f. Civilr. u. Proc. B. 7 S. 138 fl. Dern- burg, Compenſation S. 70 ff. 257) So z. B. in der Lehre von dem Irrthum, für welche Savigny Syſtem B. 3 S. 294 die Behauptung aufſtellt, daß auch der Verkäufer we- gen Irrthums des Käufers von ſeiner Verbindlichkeit frei werde. Bei der Ehe würde dies richtig ſein, denn eine Ehe kann nicht für den einen Theil nichtig, für den andern gültig ſein, die Eingehung der Ehe enthält einen wirk- lich zweiſeitigen Vertrag, bei dem die Wirkungen für beide Theile ſich gegen- ſeitig bedingen. Dies gilt aber für den Kauf und Miethcontract nicht, eben weil beide nur ein Compoſitum von zwei Verträgen ſind, es kann eine emtio ohne venditio, eine venditio ohne emtio geben. Die weitere Ausführung würde uns hier zu ſehr ins dogmatiſche Detail führen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/208>, abgerufen am 06.05.2024.