B. Das Rechtsgeschäft. Concentration desselben. §. 53.
Die bisherige Ausführung über die bedingte Obligation und das Testament läßt unsere obige Regel (S. 150 fl.), derzufolge der ganze Thatbestand des Rechtsgeschäfts im Moment seiner Vornahme vorhanden sein muß, unangetastet, dagegen hat sie allerdings gezeigt, daß der Schluß, den wir auf sie gebaut ha- ben, nämlich der, daß das Rechtsgeschäft in jenem Moment so- fort entweder existiren oder nicht existiren müsse, ein Zustand der Unentschiedenheit oder des Werdens aber nicht möglich sei, einer Einschränkung bedarf. Wie wenig aber diese beiden Fälle, in denen ausnahmsweise der Richter statt des Zeitpunktes einen Zeitraum ins Auge zu fassen hat, geeignet sind, unsere Lehre von der Bedeutung des Zeitpunktes im älteren Rechte (der "punktualisirenden Methode" S. 25) zu erschüttern, dafür möge es mir noch verstattet sein, zwei Erscheinungen in Bezug zu neh- men, von denen die eine noch in das Gebiet des Rechtsgeschäfts hineinreicht, die andere aber wenigstens an dasselbe anstreift. Wenn der Testator eine Capitis deminutio erleidet, später- hin aber die dadurch verlorene Rechtsstellung wiedererlangt, so bleibt das Testament gleichwohl nach Civilrecht ungültig (irri- tum); ebenso wenn ihm ein Kind geboren wird, das im Testa- ment nicht berücksichtigt war, aber vor ihm stirbt (ruptum). In beiden Fällen -- und da zeigt sich wiederum der principielle Ge- gensatz in der Methode und Auffassung -- hält das prätorische Recht das Testament in Form der Bon. Poss. secundum tabulas aufrecht. Der Gegensatz beider Behandlungsweisen reducirt sich vom Standpunkt der Technik aus auf den bisher von uns ent- wickelten. Das alte Civilrecht beschränkt sich in der Würdi- gung jener Ereignisse lediglich auf den Moment ihres Eintritts, die Nachgeschichte derselben kommt nicht in Betracht. 220) Das prätorische Recht hingegen verfolgt dieselben bis zum Moment des Todes. Das zweite Beispiel bietet die Usucapion. Das
220) Ulpian bezeichnet dies in L. 12 pr. de inj. (28. 3) als juris scru- pulositas nimiaque subtilitas.
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B. Das Rechtsgeſchäft. Concentration deſſelben. §. 53.
Die bisherige Ausführung über die bedingte Obligation und das Teſtament läßt unſere obige Regel (S. 150 fl.), derzufolge der ganze Thatbeſtand des Rechtsgeſchäfts im Moment ſeiner Vornahme vorhanden ſein muß, unangetaſtet, dagegen hat ſie allerdings gezeigt, daß der Schluß, den wir auf ſie gebaut ha- ben, nämlich der, daß das Rechtsgeſchäft in jenem Moment ſo- fort entweder exiſtiren oder nicht exiſtiren müſſe, ein Zuſtand der Unentſchiedenheit oder des Werdens aber nicht möglich ſei, einer Einſchränkung bedarf. Wie wenig aber dieſe beiden Fälle, in denen ausnahmsweiſe der Richter ſtatt des Zeitpunktes einen Zeitraum ins Auge zu faſſen hat, geeignet ſind, unſere Lehre von der Bedeutung des Zeitpunktes im älteren Rechte (der „punktualiſirenden Methode“ S. 25) zu erſchüttern, dafür möge es mir noch verſtattet ſein, zwei Erſcheinungen in Bezug zu neh- men, von denen die eine noch in das Gebiet des Rechtsgeſchäfts hineinreicht, die andere aber wenigſtens an daſſelbe anſtreift. Wenn der Teſtator eine Capitis deminutio erleidet, ſpäter- hin aber die dadurch verlorene Rechtsſtellung wiedererlangt, ſo bleibt das Teſtament gleichwohl nach Civilrecht ungültig (irri- tum); ebenſo wenn ihm ein Kind geboren wird, das im Teſta- ment nicht berückſichtigt war, aber vor ihm ſtirbt (ruptum). In beiden Fällen — und da zeigt ſich wiederum der principielle Ge- genſatz in der Methode und Auffaſſung — hält das prätoriſche Recht das Teſtament in Form der Bon. Poss. secundum tabulas aufrecht. Der Gegenſatz beider Behandlungsweiſen reducirt ſich vom Standpunkt der Technik aus auf den bisher von uns ent- wickelten. Das alte Civilrecht beſchränkt ſich in der Würdi- gung jener Ereigniſſe lediglich auf den Moment ihres Eintritts, die Nachgeſchichte derſelben kommt nicht in Betracht. 220) Das prätoriſche Recht hingegen verfolgt dieſelben bis zum Moment des Todes. Das zweite Beiſpiel bietet die Uſucapion. Das
220) Ulpian bezeichnet dies in L. 12 pr. de inj. (28. 3) als juris scru- pulositas nimiaque subtilitas.
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B. Das Rechtsgeſchäft. Concentration deſſelben. §. 53.
Die bisherige Ausführung über die bedingte Obligation und
das Teſtament läßt unſere obige Regel (S. 150 fl.), derzufolge
der ganze Thatbeſtand des Rechtsgeſchäfts im Moment ſeiner
Vornahme vorhanden ſein muß, unangetaſtet, dagegen hat ſie
allerdings gezeigt, daß der Schluß, den wir auf ſie gebaut ha-
ben, nämlich der, daß das Rechtsgeſchäft in jenem Moment ſo-
fort entweder exiſtiren oder nicht exiſtiren müſſe, ein Zuſtand der
Unentſchiedenheit oder des Werdens aber nicht möglich ſei, einer
Einſchränkung bedarf. Wie wenig aber dieſe beiden Fälle, in
denen ausnahmsweiſe der Richter ſtatt des Zeitpunktes einen
Zeitraum ins Auge zu faſſen hat, geeignet ſind, unſere Lehre
von der Bedeutung des Zeitpunktes im älteren Rechte (der
„punktualiſirenden Methode“ S. 25) zu erſchüttern, dafür möge
es mir noch verſtattet ſein, zwei Erſcheinungen in Bezug zu neh-
men, von denen die eine noch in das Gebiet des Rechtsgeſchäfts
hineinreicht, die andere aber wenigſtens an daſſelbe anſtreift.
Wenn der Teſtator eine Capitis deminutio erleidet, ſpäter-
hin aber die dadurch verlorene Rechtsſtellung wiedererlangt, ſo
bleibt das Teſtament gleichwohl nach Civilrecht ungültig (irri-
tum); ebenſo wenn ihm ein Kind geboren wird, das im Teſta-
ment nicht berückſichtigt war, aber vor ihm ſtirbt (ruptum). In
beiden Fällen — und da zeigt ſich wiederum der principielle Ge-
genſatz in der Methode und Auffaſſung — hält das prätoriſche
Recht das Teſtament in Form der Bon. Poss. secundum tabulas
aufrecht. Der Gegenſatz beider Behandlungsweiſen reducirt ſich
vom Standpunkt der Technik aus auf den bisher von uns ent-
wickelten. Das alte Civilrecht beſchränkt ſich in der Würdi-
gung jener Ereigniſſe lediglich auf den Moment ihres Eintritts,
die Nachgeſchichte derſelben kommt nicht in Betracht. 220) Das
prätoriſche Recht hingegen verfolgt dieſelben bis zum Moment
des Todes. Das zweite Beiſpiel bietet die Uſucapion. Das
220) Ulpian bezeichnet dies in L. 12 pr. de inj. (28. 3) als juris scru-
pulositas nimiaque subtilitas.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/179>, abgerufen am 16.02.2025.
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