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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
scheinlich als civilistische Mißgeburten erschienen. Das alte
Rechtsgeschäft hat ein bloß punktuelles Dasein, die Minute
oder Sekunde, in die es fällt, entscheidet bei ihm über Sein
und Nichtsein; von der Zeit hat es nichts zu hoffen und nichts
zu fürchten; was ihm fehlt, kann die Zukunft ihm nicht geben,
was es einmal hat, ihm nicht entziehen, es ist von vornherein
absolut fest und unabänderlich. Nur zwei Ausnahmen läßt das
ältere Recht zu: das Testament und die bedingte Obligation (s. u.);
beide erwarten die Entscheidung über ihre Existenz erst von der
Zukunft, befinden sich also bis dahin im Zustande des Werdens
(der Pendenz). Wir wenden uns zunächst der Regel zu.

Sie wird in unsern Quellen in einer doppelten Fassung an-
erkannt, in der positiven: über die Existenz des Rechtsgeschäfts
entscheide die Zeit des Abschlusses, 191) in der negativen: was
von Anfang an ungültig sei, könne durch spätere Ereignisse nicht
zu Kräften kommen. 192) Außer diesen allgemeinen Aussprüchen
enthalten unsere Quellen noch eine Reihe einzelner Anwendungs-
fälle, welche der folgenden Darstellung zur Grundlage dienen.

Die erste Voraussetzung der Gültigkeit einer jeden Hand-
lung ist die persönliche Fähigkeit der handelnden Personen,
und auf dieses Requisit hält auch noch das neuere Recht so streng,
daß es die Umgehung desselben sei es in Form der Anticipation
sei es in der der Ratihabition oder der Convalescenz fast aus-
nahmslos verwirft. 193) Eine eigenthümliche Gestalt nahm dieses
Erforderniß beim Testament an, insofern es nämlich nicht auf die

191) Für die Stipulation: L. 26 de stip. serv. (45. 3): ex prae-
senti
vires accipit. L. 78 pr. de V. O. (45. 1): id tempus spectatur,
quo contrahimus. L. 83 §. 5 L. 137 §. 6 ibid., L. 144 §. 1 de R. J.
(50.
17); für Vermächtnisse die regula Catoniana L. 1 pr. de reg. cat.
(34. 7), L. 41 §. 2 de leg. II.
(31). Neueres Recht: L. 5 ibid. reg. caton.
ad novas leges non pertinet;
für letztwillige Bestimmungen überhaupt
L. 201 de R. J. (50. 17) .. si initium sine vitio ceperint.
192) L. 210 de R. J. (50. 17) .. ex postfacto convalescere non potest.
L. 41 §. 2 de leg. I.
(30).
193) Wo der Schein des Gegentheils besteht, verbirgt sich regelmäßig

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
ſcheinlich als civiliſtiſche Mißgeburten erſchienen. Das alte
Rechtsgeſchäft hat ein bloß punktuelles Daſein, die Minute
oder Sekunde, in die es fällt, entſcheidet bei ihm über Sein
und Nichtſein; von der Zeit hat es nichts zu hoffen und nichts
zu fürchten; was ihm fehlt, kann die Zukunft ihm nicht geben,
was es einmal hat, ihm nicht entziehen, es iſt von vornherein
abſolut feſt und unabänderlich. Nur zwei Ausnahmen läßt das
ältere Recht zu: das Teſtament und die bedingte Obligation (ſ. u.);
beide erwarten die Entſcheidung über ihre Exiſtenz erſt von der
Zukunft, befinden ſich alſo bis dahin im Zuſtande des Werdens
(der Pendenz). Wir wenden uns zunächſt der Regel zu.

Sie wird in unſern Quellen in einer doppelten Faſſung an-
erkannt, in der poſitiven: über die Exiſtenz des Rechtsgeſchäfts
entſcheide die Zeit des Abſchluſſes, 191) in der negativen: was
von Anfang an ungültig ſei, könne durch ſpätere Ereigniſſe nicht
zu Kräften kommen. 192) Außer dieſen allgemeinen Ausſprüchen
enthalten unſere Quellen noch eine Reihe einzelner Anwendungs-
fälle, welche der folgenden Darſtellung zur Grundlage dienen.

Die erſte Vorausſetzung der Gültigkeit einer jeden Hand-
lung iſt die perſönliche Fähigkeit der handelnden Perſonen,
und auf dieſes Requiſit hält auch noch das neuere Recht ſo ſtreng,
daß es die Umgehung deſſelben ſei es in Form der Anticipation
ſei es in der der Ratihabition oder der Convalescenz faſt aus-
nahmslos verwirft. 193) Eine eigenthümliche Geſtalt nahm dieſes
Erforderniß beim Teſtament an, inſofern es nämlich nicht auf die

191) Für die Stipulation: L. 26 de stip. serv. (45. 3): ex prae-
senti
vires accipit. L. 78 pr. de V. O. (45. 1): id tempus spectatur,
quo contrahimus. L. 83 §. 5 L. 137 §. 6 ibid., L. 144 §. 1 de R. J.
(50.
17); für Vermächtniſſe die regula Catoniana L. 1 pr. de reg. cat.
(34. 7), L. 41 §. 2 de leg. II.
(31). Neueres Recht: L. 5 ibid. reg. caton.
ad novas leges non pertinet;
für letztwillige Beſtimmungen überhaupt
L. 201 de R. J. (50. 17) .. si initium sine vitio ceperint.
192) L. 210 de R. J. (50. 17) .. ex postfacto convalescere non potest.
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(30).
193) Wo der Schein des Gegentheils beſteht, verbirgt ſich regelmäßig
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[152/0168] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. ſcheinlich als civiliſtiſche Mißgeburten erſchienen. Das alte Rechtsgeſchäft hat ein bloß punktuelles Daſein, die Minute oder Sekunde, in die es fällt, entſcheidet bei ihm über Sein und Nichtſein; von der Zeit hat es nichts zu hoffen und nichts zu fürchten; was ihm fehlt, kann die Zukunft ihm nicht geben, was es einmal hat, ihm nicht entziehen, es iſt von vornherein abſolut feſt und unabänderlich. Nur zwei Ausnahmen läßt das ältere Recht zu: das Teſtament und die bedingte Obligation (ſ. u.); beide erwarten die Entſcheidung über ihre Exiſtenz erſt von der Zukunft, befinden ſich alſo bis dahin im Zuſtande des Werdens (der Pendenz). Wir wenden uns zunächſt der Regel zu. Sie wird in unſern Quellen in einer doppelten Faſſung an- erkannt, in der poſitiven: über die Exiſtenz des Rechtsgeſchäfts entſcheide die Zeit des Abſchluſſes, 191) in der negativen: was von Anfang an ungültig ſei, könne durch ſpätere Ereigniſſe nicht zu Kräften kommen. 192) Außer dieſen allgemeinen Ausſprüchen enthalten unſere Quellen noch eine Reihe einzelner Anwendungs- fälle, welche der folgenden Darſtellung zur Grundlage dienen. Die erſte Vorausſetzung der Gültigkeit einer jeden Hand- lung iſt die perſönliche Fähigkeit der handelnden Perſonen, und auf dieſes Requiſit hält auch noch das neuere Recht ſo ſtreng, daß es die Umgehung deſſelben ſei es in Form der Anticipation ſei es in der der Ratihabition oder der Convalescenz faſt aus- nahmslos verwirft. 193) Eine eigenthümliche Geſtalt nahm dieſes Erforderniß beim Teſtament an, inſofern es nämlich nicht auf die 191) Für die Stipulation: L. 26 de stip. serv. (45. 3): ex prae- senti vires accipit. L. 78 pr. de V. O. (45. 1): id tempus spectatur, quo contrahimus. L. 83 §. 5 L. 137 §. 6 ibid., L. 144 §. 1 de R. J. (50. 17); für Vermächtniſſe die regula Catoniana L. 1 pr. de reg. cat. (34. 7), L. 41 §. 2 de leg. II. (31). Neueres Recht: L. 5 ibid. reg. caton. ad novas leges non pertinet; für letztwillige Beſtimmungen überhaupt L. 201 de R. J. (50. 17) .. si initium sine vitio ceperint. 192) L. 210 de R. J. (50. 17) .. ex postfacto convalescere non potest. L. 41 §. 2 de leg. I. (30). 193) Wo der Schein des Gegentheils beſteht, verbirgt ſich regelmäßig

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/168>, abgerufen am 22.11.2024.