Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Wir haben das Ziel, das wir uns früher gesteckt, und das uns von §. 50 an beschäftigt hat: den analytischen Mechanis- mus des alten Processes zur Anschauung zu bringen, erreicht, und es wird jetzt an der Zeit sein, uns über den Werth und Un- werth der ganzen Einrichtung zu verständigen.
Der erste Eindruck, den sie gewiß in jedem Unbefangenen hervorrufen wird, ist der der Bewunderung über die außerordent- liche Kunst, die sich in ihr ausprägt. Vom Standpunkt der ju- ristischen Aesthetik (B. 2 S. 405 flg.) aus betrachtet erscheint sie als ein Kunstwerk, dem ich nichts, was die Geschichte des Processes sonst bietet, an die Seite zu setzen wüßte, und dem gegenüber namentlich der heutige Proceß sehr in den Schatten tritt -- ein Kunstwerk, bei dem die höchste Einfachheit des Grundgedankens sich paart mit der bewundernswürdigsten Consequenz seiner Durch- führung und einer in Auffindung der richtigen Mittel unerschöpf- lichen Erfindungskraft, die äußerste Feinheit der Detailarbeit mit der größten Solidität und der klarsten Durchsichtigkeit seiner gan- zen Anlage -- kurz eine durch ihre Einfachheit wie ihre Kunst gleich ingeniöse Maschine!
Aber was kümmert uns der Kunstwerth beim Proceß, wird man mir einwenden, welchen Werth hat alle Kunst, wo es nur auf einfache Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit ankömmt? Hier wird die Kunst zur Künstelei. Und ist nicht die Rücksicht der Zweck- mäßigkeit und Bequemlichkeit durch die Weitläuftigkeiten, Um- wege, Wiederholungen, zu denen der alte Proceß nöthigt, entschie- den hintenan gesetzt? Der Weg, auf den Er die Streitsache weist, gleicht dem Geleise der Eisenbahn, es sind eiserne Schienen, in denen die Bewegung unabänderlich in der vorgeschriebenen Rich- tung sich vorwärts bewegen muß. Keine Abweichung zur Seite, kein Anhalten! Auch an Punkten, wo die eine oder andere Par- thei ein Ausschlag gebendes Streitmaterial aufnehmen könnte, schießt der Zug unaufhaltsam vorbei, und es bedarf, nachdem er am Ziele angelangt ist, einer neuen Fahrt, neuer Kosten, neuen Zeitverlustes, um das Versäumte nachzuholen.
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Wir haben das Ziel, das wir uns früher geſteckt, und das uns von §. 50 an beſchäftigt hat: den analytiſchen Mechanis- mus des alten Proceſſes zur Anſchauung zu bringen, erreicht, und es wird jetzt an der Zeit ſein, uns über den Werth und Un- werth der ganzen Einrichtung zu verſtändigen.
Der erſte Eindruck, den ſie gewiß in jedem Unbefangenen hervorrufen wird, iſt der der Bewunderung über die außerordent- liche Kunſt, die ſich in ihr ausprägt. Vom Standpunkt der ju- riſtiſchen Aeſthetik (B. 2 S. 405 flg.) aus betrachtet erſcheint ſie als ein Kunſtwerk, dem ich nichts, was die Geſchichte des Proceſſes ſonſt bietet, an die Seite zu ſetzen wüßte, und dem gegenüber namentlich der heutige Proceß ſehr in den Schatten tritt — ein Kunſtwerk, bei dem die höchſte Einfachheit des Grundgedankens ſich paart mit der bewundernswürdigſten Conſequenz ſeiner Durch- führung und einer in Auffindung der richtigen Mittel unerſchöpf- lichen Erfindungskraft, die äußerſte Feinheit der Detailarbeit mit der größten Solidität und der klarſten Durchſichtigkeit ſeiner gan- zen Anlage — kurz eine durch ihre Einfachheit wie ihre Kunſt gleich ingeniöſe Maſchine!
Aber was kümmert uns der Kunſtwerth beim Proceß, wird man mir einwenden, welchen Werth hat alle Kunſt, wo es nur auf einfache Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit ankömmt? Hier wird die Kunſt zur Künſtelei. Und iſt nicht die Rückſicht der Zweck- mäßigkeit und Bequemlichkeit durch die Weitläuftigkeiten, Um- wege, Wiederholungen, zu denen der alte Proceß nöthigt, entſchie- den hintenan geſetzt? Der Weg, auf den Er die Streitſache weiſt, gleicht dem Geleiſe der Eiſenbahn, es ſind eiſerne Schienen, in denen die Bewegung unabänderlich in der vorgeſchriebenen Rich- tung ſich vorwärts bewegen muß. Keine Abweichung zur Seite, kein Anhalten! Auch an Punkten, wo die eine oder andere Par- thei ein Ausſchlag gebendes Streitmaterial aufnehmen könnte, ſchießt der Zug unaufhaltſam vorbei, und es bedarf, nachdem er am Ziele angelangt iſt, einer neuen Fahrt, neuer Koſten, neuen Zeitverluſtes, um das Verſäumte nachzuholen.
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Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Wir haben das Ziel, das wir uns früher geſteckt, und das
uns von §. 50 an beſchäftigt hat: den analytiſchen Mechanis-
mus des alten Proceſſes zur Anſchauung zu bringen, erreicht,
und es wird jetzt an der Zeit ſein, uns über den Werth und Un-
werth der ganzen Einrichtung zu verſtändigen.
Der erſte Eindruck, den ſie gewiß in jedem Unbefangenen
hervorrufen wird, iſt der der Bewunderung über die außerordent-
liche Kunſt, die ſich in ihr ausprägt. Vom Standpunkt der ju-
riſtiſchen Aeſthetik (B. 2 S. 405 flg.) aus betrachtet erſcheint ſie
als ein Kunſtwerk, dem ich nichts, was die Geſchichte des Proceſſes
ſonſt bietet, an die Seite zu ſetzen wüßte, und dem gegenüber
namentlich der heutige Proceß ſehr in den Schatten tritt — ein
Kunſtwerk, bei dem die höchſte Einfachheit des Grundgedankens
ſich paart mit der bewundernswürdigſten Conſequenz ſeiner Durch-
führung und einer in Auffindung der richtigen Mittel unerſchöpf-
lichen Erfindungskraft, die äußerſte Feinheit der Detailarbeit mit
der größten Solidität und der klarſten Durchſichtigkeit ſeiner gan-
zen Anlage — kurz eine durch ihre Einfachheit wie ihre Kunſt
gleich ingeniöſe Maſchine!
Aber was kümmert uns der Kunſtwerth beim Proceß, wird
man mir einwenden, welchen Werth hat alle Kunſt, wo es nur auf
einfache Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit ankömmt? Hier wird
die Kunſt zur Künſtelei. Und iſt nicht die Rückſicht der Zweck-
mäßigkeit und Bequemlichkeit durch die Weitläuftigkeiten, Um-
wege, Wiederholungen, zu denen der alte Proceß nöthigt, entſchie-
den hintenan geſetzt? Der Weg, auf den Er die Streitſache weiſt,
gleicht dem Geleiſe der Eiſenbahn, es ſind eiſerne Schienen, in
denen die Bewegung unabänderlich in der vorgeſchriebenen Rich-
tung ſich vorwärts bewegen muß. Keine Abweichung zur Seite,
kein Anhalten! Auch an Punkten, wo die eine oder andere Par-
thei ein Ausſchlag gebendes Streitmaterial aufnehmen könnte,
ſchießt der Zug unaufhaltſam vorbei, und es bedarf, nachdem er
am Ziele angelangt iſt, einer neuen Fahrt, neuer Koſten, neuen
Zeitverluſtes, um das Verſäumte nachzuholen.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/136>, abgerufen am 22.07.2024.
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