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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik.
die Zeiten der Jurisprudenz und hat auf den Namen der letzte-
ren keinen Anspruch. Allein wer wie ich das Kriterium der Ju-
risprudenz in etwas anderem erblickt, als im Bücher schreiben,
wer sie setzt in juristisches Denken, der wird jener Kunst
diesen Namen nicht vorenthalten, denn von einem juristischen
Denken legen die Begriffe und Formeln, die sie uns überlie-
fert hat, in einer Weise Zeugniß ab, wie ganze Wagenladungen
von Büchern es für so manche schreiblustige Zeitalter nicht könn-
ten. Dies Denken geht nur nicht, wie bei uns, in die Breite
und ist uns nur nicht in seiner ursprünglich flüssigen Gestalt,
sondern objectivirt und comprimirt auf kleinsten Raum, d. h. in
Gestalt eines Rechtsbegriffs erhalten, und darum wird es von
so Vielen übersehen, wie man ja auch im gewöhnlichen Leben
sich oft nicht bewußt ist, daß die einfachsten Geräthschaften,
Kunstgriffe u. s. w. Resultate eines oft über Jahrhunderte sich
ausdehnenden menschlichen Denkprocesses sind.

Wenn man aber mit uns jene Niederschläge des ältesten
römisch-juristischen Denkens, wie wir die Grundbegriffe des rö-
mischen Rechts nennen dürfen, einer Analyse unterwirft, das in
ihnen objectivirte Denken wiederum in Fluß versetzt, so erstaunt
man wahrhaft über die geistige Kraft und Arbeit, von der sie
Zeugniß ablegen, über die Fruchtbarkeit und Einfachheit der
Gedanken und die Consequenz und Energie der Durchführung --
Eigenschaften, welche die Idee, daß die unmittelbare Volksüber-
zeugung, das naive, nicht reflectirende Denken dies hervorge-
bracht habe, geradezu zu einer Abgeschmacktheit stempeln, -- und
man sieht eine reiche Gedankenwelt sich aufthun, von der freilich
die bisherige Rechtsgeschichtsschreibung, der die werthlosen Na-
men von Juristen schwerer wogen, als juristische Gedanken, eben
so wenig eine Vorstellung hatte, wie der Ungebildete von der Welt,
die in Form der Versteinerungen das Innere der Erde uns auf-
bewahrt. Wie das Auge des Paläontologen in diesen Verstei-
nerungen den steinernen Bericht über die Geschichte unserer Erd-
rinde erblickt, wie sie ihm Vorgänge und Umwälzungen aus

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik.
die Zeiten der Jurisprudenz und hat auf den Namen der letzte-
ren keinen Anſpruch. Allein wer wie ich das Kriterium der Ju-
risprudenz in etwas anderem erblickt, als im Bücher ſchreiben,
wer ſie ſetzt in juriſtiſches Denken, der wird jener Kunſt
dieſen Namen nicht vorenthalten, denn von einem juriſtiſchen
Denken legen die Begriffe und Formeln, die ſie uns überlie-
fert hat, in einer Weiſe Zeugniß ab, wie ganze Wagenladungen
von Büchern es für ſo manche ſchreibluſtige Zeitalter nicht könn-
ten. Dies Denken geht nur nicht, wie bei uns, in die Breite
und iſt uns nur nicht in ſeiner urſprünglich flüſſigen Geſtalt,
ſondern objectivirt und comprimirt auf kleinſten Raum, d. h. in
Geſtalt eines Rechtsbegriffs erhalten, und darum wird es von
ſo Vielen überſehen, wie man ja auch im gewöhnlichen Leben
ſich oft nicht bewußt iſt, daß die einfachſten Geräthſchaften,
Kunſtgriffe u. ſ. w. Reſultate eines oft über Jahrhunderte ſich
ausdehnenden menſchlichen Denkproceſſes ſind.

Wenn man aber mit uns jene Niederſchläge des älteſten
römiſch-juriſtiſchen Denkens, wie wir die Grundbegriffe des rö-
miſchen Rechts nennen dürfen, einer Analyſe unterwirft, das in
ihnen objectivirte Denken wiederum in Fluß verſetzt, ſo erſtaunt
man wahrhaft über die geiſtige Kraft und Arbeit, von der ſie
Zeugniß ablegen, über die Fruchtbarkeit und Einfachheit der
Gedanken und die Conſequenz und Energie der Durchführung —
Eigenſchaften, welche die Idee, daß die unmittelbare Volksüber-
zeugung, das naive, nicht reflectirende Denken dies hervorge-
bracht habe, geradezu zu einer Abgeſchmacktheit ſtempeln, — und
man ſieht eine reiche Gedankenwelt ſich aufthun, von der freilich
die bisherige Rechtsgeſchichtsſchreibung, der die werthloſen Na-
men von Juriſten ſchwerer wogen, als juriſtiſche Gedanken, eben
ſo wenig eine Vorſtellung hatte, wie der Ungebildete von der Welt,
die in Form der Verſteinerungen das Innere der Erde uns auf-
bewahrt. Wie das Auge des Paläontologen in dieſen Verſtei-
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rinde erblickt, wie ſie ihm Vorgänge und Umwälzungen aus

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[4/0020] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. die Zeiten der Jurisprudenz und hat auf den Namen der letzte- ren keinen Anſpruch. Allein wer wie ich das Kriterium der Ju- risprudenz in etwas anderem erblickt, als im Bücher ſchreiben, wer ſie ſetzt in juriſtiſches Denken, der wird jener Kunſt dieſen Namen nicht vorenthalten, denn von einem juriſtiſchen Denken legen die Begriffe und Formeln, die ſie uns überlie- fert hat, in einer Weiſe Zeugniß ab, wie ganze Wagenladungen von Büchern es für ſo manche ſchreibluſtige Zeitalter nicht könn- ten. Dies Denken geht nur nicht, wie bei uns, in die Breite und iſt uns nur nicht in ſeiner urſprünglich flüſſigen Geſtalt, ſondern objectivirt und comprimirt auf kleinſten Raum, d. h. in Geſtalt eines Rechtsbegriffs erhalten, und darum wird es von ſo Vielen überſehen, wie man ja auch im gewöhnlichen Leben ſich oft nicht bewußt iſt, daß die einfachſten Geräthſchaften, Kunſtgriffe u. ſ. w. Reſultate eines oft über Jahrhunderte ſich ausdehnenden menſchlichen Denkproceſſes ſind. Wenn man aber mit uns jene Niederſchläge des älteſten römiſch-juriſtiſchen Denkens, wie wir die Grundbegriffe des rö- miſchen Rechts nennen dürfen, einer Analyſe unterwirft, das in ihnen objectivirte Denken wiederum in Fluß verſetzt, ſo erſtaunt man wahrhaft über die geiſtige Kraft und Arbeit, von der ſie Zeugniß ablegen, über die Fruchtbarkeit und Einfachheit der Gedanken und die Conſequenz und Energie der Durchführung — Eigenſchaften, welche die Idee, daß die unmittelbare Volksüber- zeugung, das naive, nicht reflectirende Denken dies hervorge- bracht habe, geradezu zu einer Abgeſchmacktheit ſtempeln, — und man ſieht eine reiche Gedankenwelt ſich aufthun, von der freilich die bisherige Rechtsgeſchichtsſchreibung, der die werthloſen Na- men von Juriſten ſchwerer wogen, als juriſtiſche Gedanken, eben ſo wenig eine Vorſtellung hatte, wie der Ungebildete von der Welt, die in Form der Verſteinerungen das Innere der Erde uns auf- bewahrt. Wie das Auge des Paläontologen in dieſen Verſtei- nerungen den ſteinernen Bericht über die Geſchichte unſerer Erd- rinde erblickt, wie ſie ihm Vorgänge und Umwälzungen aus

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/20>, abgerufen am 28.11.2024.