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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
gulare sprechen, wo der ganze Stoff localisirt ist, wie es z. B.
bei den Fristen der Verjährung denkbar wäre; wo keine Regel,
gibt es keine Ausnahme.

So wenig ich es nun verkenne, daß es Interessen und Gründe
geben kann, welche eine derartige Abweichung durchaus moti-
viren, so sehr hat doch das Recht Ursache, diesen Abweichungen
möglichst wenig hold zu sein, sie vielmehr als Opfer oder Con-
cessionen zu betrachten, die nur durch den Fall der Noth ent-
schuldigt werden können. Zwei Interessen stehen sich hier gegen-
über, das des besonderen Verhältnisses, welches die Abwei-
chung vom allgemeinen Recht begehrt, und das der Technik des
Rechts, welches sich dem widersetzt. Die praktische Bedeu-
tung des letzteren ist dem blöden Auge weniger sichtbar, da
dasselbe nicht in den Niederungen einzelner Fragen, sondern
nur auf der Höhe des Rechts zum Vorschein kömmt; der Un-
kundige wird es daher überall nicht anerkennen oder höchstens
für ein rein theoretisches erklären. Aus diesem Grunde erscheint
ihm jenes erstere Interesse mindestens als das überwiegende
wenn nicht einzige; ein Gesetzgeber, der die Sache mit diesem
Auge ansieht, wird mithin den Conflict zu Gunsten dieses
Interesses entscheiden. Von dem Preise, um den er hier ein
vielleicht höchst untergeordnetes und beschränktes Bedürfniß be-
friedigt, dem Schaden nämlich, den das Recht in seinem Lebens-
princip erleidet, hat er keine Ahnung. Eine solche Unkenntniß
der praktischen Bedeutung der Interessen der Technik ist lei-
der auch in der Wissenschaft keineswegs selten; man würde sonst
nicht so häufig die individualisirende (oder in meiner Sprache
localisirende) Methode des deutschen Rechts als das Wahre und
Rechte preisen (S. 121--123). Beide Extreme sind vom Uebel,
aber soll es dann einmal eins sein, so ist ein zu weit getriebe-
nes Centralisiren weniger gefährlich, als das Individualisiren.
Dort ist wenigstens im Centrum eine gewaltige Kraft, es ist ein
Ganzes, wenn auch auf Kosten des Besondern; hier hingegen
ist nicht einmal das Einzelne kräftig entwickelt, denn als Ein-

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
gulare ſprechen, wo der ganze Stoff localiſirt iſt, wie es z. B.
bei den Friſten der Verjährung denkbar wäre; wo keine Regel,
gibt es keine Ausnahme.

So wenig ich es nun verkenne, daß es Intereſſen und Gründe
geben kann, welche eine derartige Abweichung durchaus moti-
viren, ſo ſehr hat doch das Recht Urſache, dieſen Abweichungen
möglichſt wenig hold zu ſein, ſie vielmehr als Opfer oder Con-
ceſſionen zu betrachten, die nur durch den Fall der Noth ent-
ſchuldigt werden können. Zwei Intereſſen ſtehen ſich hier gegen-
über, das des beſonderen Verhältniſſes, welches die Abwei-
chung vom allgemeinen Recht begehrt, und das der Technik des
Rechts, welches ſich dem widerſetzt. Die praktiſche Bedeu-
tung des letzteren iſt dem blöden Auge weniger ſichtbar, da
daſſelbe nicht in den Niederungen einzelner Fragen, ſondern
nur auf der Höhe des Rechts zum Vorſchein kömmt; der Un-
kundige wird es daher überall nicht anerkennen oder höchſtens
für ein rein theoretiſches erklären. Aus dieſem Grunde erſcheint
ihm jenes erſtere Intereſſe mindeſtens als das überwiegende
wenn nicht einzige; ein Geſetzgeber, der die Sache mit dieſem
Auge anſieht, wird mithin den Conflict zu Gunſten dieſes
Intereſſes entſcheiden. Von dem Preiſe, um den er hier ein
vielleicht höchſt untergeordnetes und beſchränktes Bedürfniß be-
friedigt, dem Schaden nämlich, den das Recht in ſeinem Lebens-
princip erleidet, hat er keine Ahnung. Eine ſolche Unkenntniß
der praktiſchen Bedeutung der Intereſſen der Technik iſt lei-
der auch in der Wiſſenſchaft keineswegs ſelten; man würde ſonſt
nicht ſo häufig die individualiſirende (oder in meiner Sprache
localiſirende) Methode des deutſchen Rechts als das Wahre und
Rechte preiſen (S. 121—123). Beide Extreme ſind vom Uebel,
aber ſoll es dann einmal eins ſein, ſo iſt ein zu weit getriebe-
nes Centraliſiren weniger gefährlich, als das Individualiſiren.
Dort iſt wenigſtens im Centrum eine gewaltige Kraft, es iſt ein
Ganzes, wenn auch auf Koſten des Beſondern; hier hingegen
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[364/0070] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. gulare ſprechen, wo der ganze Stoff localiſirt iſt, wie es z. B. bei den Friſten der Verjährung denkbar wäre; wo keine Regel, gibt es keine Ausnahme. So wenig ich es nun verkenne, daß es Intereſſen und Gründe geben kann, welche eine derartige Abweichung durchaus moti- viren, ſo ſehr hat doch das Recht Urſache, dieſen Abweichungen möglichſt wenig hold zu ſein, ſie vielmehr als Opfer oder Con- ceſſionen zu betrachten, die nur durch den Fall der Noth ent- ſchuldigt werden können. Zwei Intereſſen ſtehen ſich hier gegen- über, das des beſonderen Verhältniſſes, welches die Abwei- chung vom allgemeinen Recht begehrt, und das der Technik des Rechts, welches ſich dem widerſetzt. Die praktiſche Bedeu- tung des letzteren iſt dem blöden Auge weniger ſichtbar, da daſſelbe nicht in den Niederungen einzelner Fragen, ſondern nur auf der Höhe des Rechts zum Vorſchein kömmt; der Un- kundige wird es daher überall nicht anerkennen oder höchſtens für ein rein theoretiſches erklären. Aus dieſem Grunde erſcheint ihm jenes erſtere Intereſſe mindeſtens als das überwiegende wenn nicht einzige; ein Geſetzgeber, der die Sache mit dieſem Auge anſieht, wird mithin den Conflict zu Gunſten dieſes Intereſſes entſcheiden. Von dem Preiſe, um den er hier ein vielleicht höchſt untergeordnetes und beſchränktes Bedürfniß be- friedigt, dem Schaden nämlich, den das Recht in ſeinem Lebens- princip erleidet, hat er keine Ahnung. Eine ſolche Unkenntniß der praktiſchen Bedeutung der Intereſſen der Technik iſt lei- der auch in der Wiſſenſchaft keineswegs ſelten; man würde ſonſt nicht ſo häufig die individualiſirende (oder in meiner Sprache localiſirende) Methode des deutſchen Rechts als das Wahre und Rechte preiſen (S. 121—123). Beide Extreme ſind vom Uebel, aber ſoll es dann einmal eins ſein, ſo iſt ein zu weit getriebe- nes Centraliſiren weniger gefährlich, als das Individualiſiren. Dort iſt wenigſtens im Centrum eine gewaltige Kraft, es iſt ein Ganzes, wenn auch auf Koſten des Beſondern; hier hingegen iſt nicht einmal das Einzelne kräftig entwickelt, denn als Ein-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/70>, abgerufen am 28.11.2024.