Die bisherige Darstellung hatte die innere Perfectibilität des Rechts als eines Objects der Erkenntniß zum Gegen- stande. Wir haben aber oben bemerkt, daß sich noch ein zweiter Gesichtspunkt hinzugesellt, nämlich
II.Die Praktikabilität des Stoffs.
Es ist dies nur ein anderer, aber, wie ich glaube, besserer Ausdruck für das, was ich früher (B. 1. S. 42--47) die for- male Realisirbarkeit des Rechts genannt habe. An der angege- benen Stelle habe ich das Wesentliche über diesen Punkt zum großen Theil bereits bemerkt, und um so weniger wird es erfor- derlich sein, ihm einen eignen Paragraphen zu widmen; ich werde ihn daher hier sofort absolviren.
Das Recht anwenden heißt die abstracten Bestimmungen concret ausdrücken, und da jede gesetzliche Bestimmung, wenn auch nicht der Form, so doch der Sache nach an gewisse Vor- aussetzungen gewisse Folgen knüpft (z. B. "die Kinder sollen erben" = wann Jemand gestorben ist und Kinder hinterlassen hat, so sollen letztere erben), so erfordert die Anwendung eines jeden Rechtssatzes zweierlei: die Untersuchung der Frage, ob die Voraussetzungen im concreten Fall vorliegen (die Diagnose), und die concrete Feststellung dessen, was nach Ab- sicht des Gesetzes eintreten soll z. B. die Feststellung der Scha- densersatzsumme.
Das Recht kann nun, wie an jener Stelle bereits bemerkt ist, beide Operationen außerordentlich erleichtern oder erschwe- ren. Je innerlicher beide Momente vom Gesetzgeber aufgefaßt sind, je mehr also z. B. die Voraussetzungen nicht in eine äu- ßerlich leicht erkennbare Form (Formulare, Worte z. B. do lego, damnas esto, "Wechsel") sondern in innerliche Momente z. B. die Absicht des Subjects (zu noviren, schenken, animo domini zu besitzen) oder den Zweck des Geschäfts (Hingabe zum Zweck der Sicherung des Empfangens für eine Forderung oder zum Zweck der Aufbewahrung) gesetzt sind, desto schwieriger ist die
II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
Die bisherige Darſtellung hatte die innere Perfectibilität des Rechts als eines Objects der Erkenntniß zum Gegen- ſtande. Wir haben aber oben bemerkt, daß ſich noch ein zweiter Geſichtspunkt hinzugeſellt, nämlich
II.Die Praktikabilität des Stoffs.
Es iſt dies nur ein anderer, aber, wie ich glaube, beſſerer Ausdruck für das, was ich früher (B. 1. S. 42—47) die for- male Realiſirbarkeit des Rechts genannt habe. An der angege- benen Stelle habe ich das Weſentliche über dieſen Punkt zum großen Theil bereits bemerkt, und um ſo weniger wird es erfor- derlich ſein, ihm einen eignen Paragraphen zu widmen; ich werde ihn daher hier ſofort abſolviren.
Das Recht anwenden heißt die abſtracten Beſtimmungen concret ausdrücken, und da jede geſetzliche Beſtimmung, wenn auch nicht der Form, ſo doch der Sache nach an gewiſſe Vor- ausſetzungen gewiſſe Folgen knüpft (z. B. „die Kinder ſollen erben“ = wann Jemand geſtorben iſt und Kinder hinterlaſſen hat, ſo ſollen letztere erben), ſo erfordert die Anwendung eines jeden Rechtsſatzes zweierlei: die Unterſuchung der Frage, ob die Vorausſetzungen im concreten Fall vorliegen (die Diagnoſe), und die concrete Feſtſtellung deſſen, was nach Ab- ſicht des Geſetzes eintreten ſoll z. B. die Feſtſtellung der Scha- denserſatzſumme.
Das Recht kann nun, wie an jener Stelle bereits bemerkt iſt, beide Operationen außerordentlich erleichtern oder erſchwe- ren. Je innerlicher beide Momente vom Geſetzgeber aufgefaßt ſind, je mehr alſo z. B. die Vorausſetzungen nicht in eine äu- ßerlich leicht erkennbare Form (Formulare, Worte z. B. do lego, damnas esto, „Wechſel“) ſondern in innerliche Momente z. B. die Abſicht des Subjects (zu noviren, ſchenken, animo domini zu beſitzen) oder den Zweck des Geſchäfts (Hingabe zum Zweck der Sicherung des Empfangens für eine Forderung oder zum Zweck der Aufbewahrung) geſetzt ſind, deſto ſchwieriger iſt die
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Die bisherige Darſtellung hatte die innere Perfectibilität
des Rechts als eines Objects der Erkenntniß zum Gegen-
ſtande. Wir haben aber oben bemerkt, daß ſich noch ein zweiter
Geſichtspunkt hinzugeſellt, nämlich
II. Die Praktikabilität des Stoffs.
Es iſt dies nur ein anderer, aber, wie ich glaube, beſſerer
Ausdruck für das, was ich früher (B. 1. S. 42—47) die for-
male Realiſirbarkeit des Rechts genannt habe. An der angege-
benen Stelle habe ich das Weſentliche über dieſen Punkt zum
großen Theil bereits bemerkt, und um ſo weniger wird es erfor-
derlich ſein, ihm einen eignen Paragraphen zu widmen; ich
werde ihn daher hier ſofort abſolviren.
Das Recht anwenden heißt die abſtracten Beſtimmungen
concret ausdrücken, und da jede geſetzliche Beſtimmung, wenn
auch nicht der Form, ſo doch der Sache nach an gewiſſe Vor-
ausſetzungen gewiſſe Folgen knüpft (z. B. „die Kinder ſollen
erben“ = wann Jemand geſtorben iſt und Kinder hinterlaſſen
hat, ſo ſollen letztere erben), ſo erfordert die Anwendung eines
jeden Rechtsſatzes zweierlei: die Unterſuchung der Frage, ob
die Vorausſetzungen im concreten Fall vorliegen (die
Diagnoſe), und die concrete Feſtſtellung deſſen, was nach Ab-
ſicht des Geſetzes eintreten ſoll z. B. die Feſtſtellung der Scha-
denserſatzſumme.
Das Recht kann nun, wie an jener Stelle bereits bemerkt
iſt, beide Operationen außerordentlich erleichtern oder erſchwe-
ren. Je innerlicher beide Momente vom Geſetzgeber aufgefaßt
ſind, je mehr alſo z. B. die Vorausſetzungen nicht in eine äu-
ßerlich leicht erkennbare Form (Formulare, Worte z. B. do lego,
damnas esto, „Wechſel“) ſondern in innerliche Momente z. B.
die Abſicht des Subjects (zu noviren, ſchenken, animo domini
zu beſitzen) oder den Zweck des Geſchäfts (Hingabe zum Zweck
der Sicherung des Empfangens für eine Forderung oder zum
Zweck der Aufbewahrung) geſetzt ſind, deſto ſchwieriger iſt die
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/53>, abgerufen am 16.02.2025.
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