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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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I. Gegensatz der natürl. u. jurist. Anschauungsweise. §. 37.
nicht mehr mit seinem eigenen schwachen Verstande, der stützt
sich nicht bloß auf seine eigene unbedeutende Erfahrung, son-
dern der arbeitet mit der Denkkraft vergangener Geschlechter und
der Erfahrung verflossener Jahrhunderte. Durch diese künstliche
Ergänzung der eigenen Kräfte und Mittel ist es möglich, daß
auch der Schwache im Dienste des Rechts eine nützliche Ver-
wendung finde, denn was das Genie auf diesem Gebiete ent-
deckt und geschaffen, was aber der gewöhnliche Verstand, wenn
er auf sich selbst angewiesen wäre, nie finden würde, kann er
mit Hülfe des Fleißes wenigstens in so weit zu seinem Eigen-
thume machen, um im Stande zu sein, es richtig anzuwenden.
Ich kenne kein Gebiet des menschlichen Wissens und Könnens,
auf dem nicht der Schwächste, der mit der Intelligenz und der
Erfahrung von Jahrhunderten operirt, dem Genie, das dieser
Beihülfe entbehrte, überlegen wäre. Welch ein leichtes Ding
ist es, das Feld zu bestellen, und ein Handwerk zu betreiben ge-
genüber der Aufgabe, die schwierigsten Rechtsfragen zu lösen!
Wenn aber einer zum Betriebe jener beiden Geschäfte nichts mit-
brächte, als den gesunden Menschenverstand, er würde es mit
dem schlechtesten Sachverständigen nicht aufnehmen können, und
wollte er gar die Erfahrungssätze mit seinem subjectiven, gesun-
der Menschenverstand titulirten Meinen umstoßen und den Kun-
digen meistern und belehren, es würde ihn der dümmste Bauer
und Handwerker mit vollem Recht verlachen. Und uns Juristen
sollte nicht dasselbe Recht zustehen, wenn ein Laie sich uns ge-
genüber dasselbe erdreistete? Wer einem Schuster und Schnei-
der die Fähigkeit zutraut, über Fragen des Rechts zu entschei-
den, wer den Muth hat, sich von ihnen seine Urtheile machen
zu lassen, möge sich auch umgekehrt seine Kleider und Stiefel
bei dem Juristen bestellen. Juristen aber, die den Wahn von der
Möglichkeit eines populären, jedem Bürger und Bauer zugäng-
lichen, den Juristen entbehrlich machenden Rechts zu theilen
und gar zu fördern im Stande sind, verdienten, diese Bestellung
auszuführen, um an Stiefeln und Kleidern inne zu werden,

I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
nicht mehr mit ſeinem eigenen ſchwachen Verſtande, der ſtützt
ſich nicht bloß auf ſeine eigene unbedeutende Erfahrung, ſon-
dern der arbeitet mit der Denkkraft vergangener Geſchlechter und
der Erfahrung verfloſſener Jahrhunderte. Durch dieſe künſtliche
Ergänzung der eigenen Kräfte und Mittel iſt es möglich, daß
auch der Schwache im Dienſte des Rechts eine nützliche Ver-
wendung finde, denn was das Genie auf dieſem Gebiete ent-
deckt und geſchaffen, was aber der gewöhnliche Verſtand, wenn
er auf ſich ſelbſt angewieſen wäre, nie finden würde, kann er
mit Hülfe des Fleißes wenigſtens in ſo weit zu ſeinem Eigen-
thume machen, um im Stande zu ſein, es richtig anzuwenden.
Ich kenne kein Gebiet des menſchlichen Wiſſens und Könnens,
auf dem nicht der Schwächſte, der mit der Intelligenz und der
Erfahrung von Jahrhunderten operirt, dem Genie, das dieſer
Beihülfe entbehrte, überlegen wäre. Welch ein leichtes Ding
iſt es, das Feld zu beſtellen, und ein Handwerk zu betreiben ge-
genüber der Aufgabe, die ſchwierigſten Rechtsfragen zu löſen!
Wenn aber einer zum Betriebe jener beiden Geſchäfte nichts mit-
brächte, als den geſunden Menſchenverſtand, er würde es mit
dem ſchlechteſten Sachverſtändigen nicht aufnehmen können, und
wollte er gar die Erfahrungsſätze mit ſeinem ſubjectiven, geſun-
der Menſchenverſtand titulirten Meinen umſtoßen und den Kun-
digen meiſtern und belehren, es würde ihn der dümmſte Bauer
und Handwerker mit vollem Recht verlachen. Und uns Juriſten
ſollte nicht daſſelbe Recht zuſtehen, wenn ein Laie ſich uns ge-
genüber daſſelbe erdreiſtete? Wer einem Schuſter und Schnei-
der die Fähigkeit zutraut, über Fragen des Rechts zu entſchei-
den, wer den Muth hat, ſich von ihnen ſeine Urtheile machen
zu laſſen, möge ſich auch umgekehrt ſeine Kleider und Stiefel
bei dem Juriſten beſtellen. Juriſten aber, die den Wahn von der
Möglichkeit eines populären, jedem Bürger und Bauer zugäng-
lichen, den Juriſten entbehrlich machenden Rechts zu theilen
und gar zu fördern im Stande ſind, verdienten, dieſe Beſtellung
auszuführen, um an Stiefeln und Kleidern inne zu werden,

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[331/0037] I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37. nicht mehr mit ſeinem eigenen ſchwachen Verſtande, der ſtützt ſich nicht bloß auf ſeine eigene unbedeutende Erfahrung, ſon- dern der arbeitet mit der Denkkraft vergangener Geſchlechter und der Erfahrung verfloſſener Jahrhunderte. Durch dieſe künſtliche Ergänzung der eigenen Kräfte und Mittel iſt es möglich, daß auch der Schwache im Dienſte des Rechts eine nützliche Ver- wendung finde, denn was das Genie auf dieſem Gebiete ent- deckt und geſchaffen, was aber der gewöhnliche Verſtand, wenn er auf ſich ſelbſt angewieſen wäre, nie finden würde, kann er mit Hülfe des Fleißes wenigſtens in ſo weit zu ſeinem Eigen- thume machen, um im Stande zu ſein, es richtig anzuwenden. Ich kenne kein Gebiet des menſchlichen Wiſſens und Könnens, auf dem nicht der Schwächſte, der mit der Intelligenz und der Erfahrung von Jahrhunderten operirt, dem Genie, das dieſer Beihülfe entbehrte, überlegen wäre. Welch ein leichtes Ding iſt es, das Feld zu beſtellen, und ein Handwerk zu betreiben ge- genüber der Aufgabe, die ſchwierigſten Rechtsfragen zu löſen! Wenn aber einer zum Betriebe jener beiden Geſchäfte nichts mit- brächte, als den geſunden Menſchenverſtand, er würde es mit dem ſchlechteſten Sachverſtändigen nicht aufnehmen können, und wollte er gar die Erfahrungsſätze mit ſeinem ſubjectiven, geſun- der Menſchenverſtand titulirten Meinen umſtoßen und den Kun- digen meiſtern und belehren, es würde ihn der dümmſte Bauer und Handwerker mit vollem Recht verlachen. Und uns Juriſten ſollte nicht daſſelbe Recht zuſtehen, wenn ein Laie ſich uns ge- genüber daſſelbe erdreiſtete? Wer einem Schuſter und Schnei- der die Fähigkeit zutraut, über Fragen des Rechts zu entſchei- den, wer den Muth hat, ſich von ihnen ſeine Urtheile machen zu laſſen, möge ſich auch umgekehrt ſeine Kleider und Stiefel bei dem Juriſten beſtellen. Juriſten aber, die den Wahn von der Möglichkeit eines populären, jedem Bürger und Bauer zugäng- lichen, den Juriſten entbehrlich machenden Rechts zu theilen und gar zu fördern im Stande ſind, verdienten, dieſe Beſtellung auszuführen, um an Stiefeln und Kleidern inne zu werden,

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/37>, abgerufen am 24.11.2024.