I. Gegensatz der natürl. u. jurist. Anschauungsweise. §. 37.
damit zugleich das der Bescheidenheit und des Mißtrauens in das eigene Urtheil.
In der Anklageschrift gegen die Jurisprudenz pflegen zwei Stichwörter: natürliche Anschauung und gesunder Menschenverstand eine große Rolle zu spielen, und man glaubt die Jurisprudenz nicht empfindlicher treffen zu können, als wenn man ihr unnatürliche Auffassung und Widerspruch mit dem gesun- den Menschenverstand Schuld gibt. Es stände aber in der That schlimm um die Jurisprudenz und das Recht selbst, wenn es anders wäre! Es würde soviel heißen, als daß eine durch Jahr- tausende fortgesetzte Beschäftigung mit dem Recht vor der angebo- renen Unkenntniß und Unerfahrenheit keinen Vorsprung gewon- nen hätte. Die natürliche Auffassung! Was ist sie denn an- ders, als der erste Versuch des Sehens und folglich die völlige Abhängigkeit eines blöden, ungeübten Auges vom äußeren Schein? Jede Erkenntniß beginnt mit ihr, aber nur, um bald inne zu werden, daß der äußere Schein trügt, und der Fortschritt in der Erkenntniß besteht gerade in einem unausge- setzten Sichlosreißen von dem Glauben an die Wahrheit der sinnlichen Erscheinung. Gilt nun für alle übrigen Gebiete des menschlichen Wissens der Satz, daß anhaltende Beschäftigung mit einem Gegenstande und fortgesetzte Beobachtung und Er- forschung desselben zu anderen Resultaten führen, als eine ober- flächliche Betrachtung desselben -- zu Resultaten, die der letzte- ren nicht bloß völlig unverständlich sein, sondern geradezu als widersinnig und unmöglich erscheinen müssen -- dann meine ich, wird dieser Satz auch wohl für das Recht gelten. In den meisten anderen Wissenschaften würde kein gebildeter Laie im Fall einer solchen Differenz es wagen, sich die Wahrheit und der Wissenschaft den Irrthum zuzutheilen; in Dingen des Rechts
aus der Werthlosigkeit seines Urtheils über die Jurisprudenz eine "Werthlosigkeit der Jurisprudenz" zu machen! -- ein Einfall, den man durch eine ernstliche Widerlegung viel zu sehr geehrt hat.
I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
damit zugleich das der Beſcheidenheit und des Mißtrauens in das eigene Urtheil.
In der Anklageſchrift gegen die Jurisprudenz pflegen zwei Stichwörter: natürliche Anſchauung und geſunder Menſchenverſtand eine große Rolle zu ſpielen, und man glaubt die Jurisprudenz nicht empfindlicher treffen zu können, als wenn man ihr unnatürliche Auffaſſung und Widerſpruch mit dem geſun- den Menſchenverſtand Schuld gibt. Es ſtände aber in der That ſchlimm um die Jurisprudenz und das Recht ſelbſt, wenn es anders wäre! Es würde ſoviel heißen, als daß eine durch Jahr- tauſende fortgeſetzte Beſchäftigung mit dem Recht vor der angebo- renen Unkenntniß und Unerfahrenheit keinen Vorſprung gewon- nen hätte. Die natürliche Auffaſſung! Was iſt ſie denn an- ders, als der erſte Verſuch des Sehens und folglich die völlige Abhängigkeit eines blöden, ungeübten Auges vom äußeren Schein? Jede Erkenntniß beginnt mit ihr, aber nur, um bald inne zu werden, daß der äußere Schein trügt, und der Fortſchritt in der Erkenntniß beſteht gerade in einem unausge- ſetzten Sichlosreißen von dem Glauben an die Wahrheit der ſinnlichen Erſcheinung. Gilt nun für alle übrigen Gebiete des menſchlichen Wiſſens der Satz, daß anhaltende Beſchäftigung mit einem Gegenſtande und fortgeſetzte Beobachtung und Er- forſchung deſſelben zu anderen Reſultaten führen, als eine ober- flächliche Betrachtung deſſelben — zu Reſultaten, die der letzte- ren nicht bloß völlig unverſtändlich ſein, ſondern geradezu als widerſinnig und unmöglich erſcheinen müſſen — dann meine ich, wird dieſer Satz auch wohl für das Recht gelten. In den meiſten anderen Wiſſenſchaften würde kein gebildeter Laie im Fall einer ſolchen Differenz es wagen, ſich die Wahrheit und der Wiſſenſchaft den Irrthum zuzutheilen; in Dingen des Rechts
aus der Werthloſigkeit ſeines Urtheils über die Jurisprudenz eine „Werthloſigkeit der Jurisprudenz“ zu machen! — ein Einfall, den man durch eine ernſtliche Widerlegung viel zu ſehr geehrt hat.
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I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
damit zugleich das der Beſcheidenheit und des Mißtrauens in
das eigene Urtheil.
In der Anklageſchrift gegen die Jurisprudenz pflegen zwei
Stichwörter: natürliche Anſchauung und geſunder
Menſchenverſtand eine große Rolle zu ſpielen, und man glaubt
die Jurisprudenz nicht empfindlicher treffen zu können, als wenn
man ihr unnatürliche Auffaſſung und Widerſpruch mit dem geſun-
den Menſchenverſtand Schuld gibt. Es ſtände aber in der That
ſchlimm um die Jurisprudenz und das Recht ſelbſt, wenn es
anders wäre! Es würde ſoviel heißen, als daß eine durch Jahr-
tauſende fortgeſetzte Beſchäftigung mit dem Recht vor der angebo-
renen Unkenntniß und Unerfahrenheit keinen Vorſprung gewon-
nen hätte. Die natürliche Auffaſſung! Was iſt ſie denn an-
ders, als der erſte Verſuch des Sehens und folglich die völlige
Abhängigkeit eines blöden, ungeübten Auges vom äußeren
Schein? Jede Erkenntniß beginnt mit ihr, aber nur, um
bald inne zu werden, daß der äußere Schein trügt, und der
Fortſchritt in der Erkenntniß beſteht gerade in einem unausge-
ſetzten Sichlosreißen von dem Glauben an die Wahrheit der
ſinnlichen Erſcheinung. Gilt nun für alle übrigen Gebiete des
menſchlichen Wiſſens der Satz, daß anhaltende Beſchäftigung
mit einem Gegenſtande und fortgeſetzte Beobachtung und Er-
forſchung deſſelben zu anderen Reſultaten führen, als eine ober-
flächliche Betrachtung deſſelben — zu Reſultaten, die der letzte-
ren nicht bloß völlig unverſtändlich ſein, ſondern geradezu als
widerſinnig und unmöglich erſcheinen müſſen — dann meine
ich, wird dieſer Satz auch wohl für das Recht gelten. In den
meiſten anderen Wiſſenſchaften würde kein gebildeter Laie im
Fall einer ſolchen Differenz es wagen, ſich die Wahrheit und
der Wiſſenſchaft den Irrthum zuzutheilen; in Dingen des Rechts
477)
477) aus der Werthloſigkeit ſeines Urtheils über die Jurisprudenz eine
„Werthloſigkeit der Jurisprudenz“ zu machen! — ein Einfall, den
man durch eine ernſtliche Widerlegung viel zu ſehr geehrt hat.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/35>, abgerufen am 16.07.2024.
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