Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
bloße, dem Geschäft anzuheftende Etikette. Begreiflicherweise
mußte überall dem concreten Inhalte des Geschäfts Raum ge-
lassen werden sich zu entfalten, jedes einzelne Geschäft bestand
nothwendigerweise aus einer Combination eines abstracten und
concreten Bestandtheils. Aber in sehr verschiedener Weise.
Es liegt z. B. auf der Hand, daß der Proceß sich nicht aus-
schließlich in fest bestimmten Formeln bewegen konnte, der freien
Verhandlung der Partheien mußte ein angemessener Spielraum
gelassen werden, und nur für die entscheidenden Momente des-
selben mochte man zur bestimmteren Hervorhebung derselben die
Benutzung einer Formel verlangen. 795) Eine Fixirung und
Concentrirung des eigentlichen Streitpunktes in Form einer
Thesis ist namentlich für den Proceß ebenso heilsam, als für eine
Disputation. Ohne die der Verhandlung nöthige Freiheit zu
beeinträchtigen, verhindert sie, daß der Streit sich nicht ins Un-
bestimmte verliere, und schließlich gar der eigentliche Streitpunkt
selbst zweifelhaft werde. Unser heutiger Proceß macht den Man-
gel dieser Einrichtung vielfach sehr fühlbar.

Im Unterschiede vom Proceß war dagegen das Testament,
sowohl rücksichtlich seiner Einrichtung im Ganzen als seiner ein-
zelnen Dispositionen von Anfang bis zu Ende ausschließlich an
feste Formeln gebunden, es gab in ihm kein Fleckchen, auf dem
man sich frei hätte bewegen können. Die Einsetzung des Erben,
die Enterbung, die Vermächtnisse, die Ernennung des Vormun-
des, die Ansprache an den familiae emtor und dessen Antwort
-- alles hatte seine bestimmte Form und zum Theil auch seine
bestimmte Ordnung (s. u.). Bei der Stipulation hingegen be-
schränkte sich der feste oder abstracte Theil des Geschäfts auf
das Wörtchen: spondes? -- ein Blankett, das man mit be-
liebigem Inhalt und in beliebiger Ordnung ausfüllen mochte.

795) In der Vindicationsformel bei Gajus IV, 16 wird auf einen sol-
chen vorausgegangenen freien Vertrag der Parthei Bezug genommen: ..
secundum suam causam, sicut dixi.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
bloße, dem Geſchäft anzuheftende Etikette. Begreiflicherweiſe
mußte überall dem concreten Inhalte des Geſchäfts Raum ge-
laſſen werden ſich zu entfalten, jedes einzelne Geſchäft beſtand
nothwendigerweiſe aus einer Combination eines abſtracten und
concreten Beſtandtheils. Aber in ſehr verſchiedener Weiſe.
Es liegt z. B. auf der Hand, daß der Proceß ſich nicht aus-
ſchließlich in feſt beſtimmten Formeln bewegen konnte, der freien
Verhandlung der Partheien mußte ein angemeſſener Spielraum
gelaſſen werden, und nur für die entſcheidenden Momente des-
ſelben mochte man zur beſtimmteren Hervorhebung derſelben die
Benutzung einer Formel verlangen. 795) Eine Fixirung und
Concentrirung des eigentlichen Streitpunktes in Form einer
Theſis iſt namentlich für den Proceß ebenſo heilſam, als für eine
Disputation. Ohne die der Verhandlung nöthige Freiheit zu
beeinträchtigen, verhindert ſie, daß der Streit ſich nicht ins Un-
beſtimmte verliere, und ſchließlich gar der eigentliche Streitpunkt
ſelbſt zweifelhaft werde. Unſer heutiger Proceß macht den Man-
gel dieſer Einrichtung vielfach ſehr fühlbar.

Im Unterſchiede vom Proceß war dagegen das Teſtament,
ſowohl rückſichtlich ſeiner Einrichtung im Ganzen als ſeiner ein-
zelnen Dispoſitionen von Anfang bis zu Ende ausſchließlich an
feſte Formeln gebunden, es gab in ihm kein Fleckchen, auf dem
man ſich frei hätte bewegen können. Die Einſetzung des Erben,
die Enterbung, die Vermächtniſſe, die Ernennung des Vormun-
des, die Anſprache an den familiae emtor und deſſen Antwort
— alles hatte ſeine beſtimmte Form und zum Theil auch ſeine
beſtimmte Ordnung (ſ. u.). Bei der Stipulation hingegen be-
ſchränkte ſich der feſte oder abſtracte Theil des Geſchäfts auf
das Wörtchen: spondes? — ein Blankett, das man mit be-
liebigem Inhalt und in beliebiger Ordnung ausfüllen mochte.

795) In der Vindicationsformel bei Gajus IV, 16 wird auf einen ſol-
chen vorausgegangenen freien Vertrag der Parthei Bezug genommen: ..
secundum suam causam, sicut dixi.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0318" n="612"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die juri&#x017F;t. Technik. <hi rendition="#aq">B.</hi> Des ält. Rechts.</fw><lb/>
bloße, dem Ge&#x017F;chäft anzuheftende Etikette. Begreiflicherwei&#x017F;e<lb/>
mußte überall dem concreten Inhalte des Ge&#x017F;chäfts Raum ge-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en werden &#x017F;ich zu entfalten, jedes einzelne Ge&#x017F;chäft be&#x017F;tand<lb/>
nothwendigerwei&#x017F;e aus einer Combination eines ab&#x017F;tracten und<lb/>
concreten Be&#x017F;tandtheils. Aber in &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedener Wei&#x017F;e.<lb/>
Es liegt z. B. auf der Hand, daß der Proceß &#x017F;ich nicht aus-<lb/>
&#x017F;chließlich in fe&#x017F;t be&#x017F;timmten Formeln bewegen konnte, der freien<lb/>
Verhandlung der Partheien mußte ein angeme&#x017F;&#x017F;ener Spielraum<lb/>
gela&#x017F;&#x017F;en werden, und nur für die ent&#x017F;cheidenden Momente des-<lb/>
&#x017F;elben mochte man zur be&#x017F;timmteren Hervorhebung der&#x017F;elben die<lb/>
Benutzung einer Formel verlangen. <note place="foot" n="795)">In der Vindicationsformel bei Gajus <hi rendition="#aq">IV, 16</hi> wird auf einen &#x017F;ol-<lb/>
chen vorausgegangenen freien Vertrag der Parthei Bezug genommen: ..<lb/><hi rendition="#aq">secundum suam causam, <hi rendition="#g">sicut dixi</hi>.</hi></note> Eine Fixirung und<lb/>
Concentrirung des eigentlichen Streitpunktes in Form einer<lb/>
The&#x017F;is i&#x017F;t namentlich für den Proceß eben&#x017F;o heil&#x017F;am, als für eine<lb/>
Disputation. Ohne die der Verhandlung nöthige Freiheit zu<lb/>
beeinträchtigen, verhindert &#x017F;ie, daß der Streit &#x017F;ich nicht ins Un-<lb/>
be&#x017F;timmte verliere, und &#x017F;chließlich gar der eigentliche Streitpunkt<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t zweifelhaft werde. Un&#x017F;er heutiger Proceß macht den Man-<lb/>
gel die&#x017F;er Einrichtung vielfach &#x017F;ehr fühlbar.</p><lb/>
                        <p>Im Unter&#x017F;chiede vom Proceß war dagegen das Te&#x017F;tament,<lb/>
&#x017F;owohl rück&#x017F;ichtlich &#x017F;einer Einrichtung im Ganzen als &#x017F;einer ein-<lb/>
zelnen Dispo&#x017F;itionen von Anfang bis zu Ende aus&#x017F;chließlich an<lb/>
fe&#x017F;te Formeln gebunden, es gab in ihm kein Fleckchen, auf dem<lb/>
man &#x017F;ich frei hätte bewegen können. Die Ein&#x017F;etzung des Erben,<lb/>
die Enterbung, die Vermächtni&#x017F;&#x017F;e, die Ernennung des Vormun-<lb/>
des, die An&#x017F;prache an den <hi rendition="#aq">familiae emtor</hi> und de&#x017F;&#x017F;en Antwort<lb/>
&#x2014; alles hatte &#x017F;eine be&#x017F;timmte Form und zum Theil auch &#x017F;eine<lb/>
be&#x017F;timmte Ordnung (&#x017F;. u.). Bei der Stipulation hingegen be-<lb/>
&#x017F;chränkte &#x017F;ich der fe&#x017F;te oder ab&#x017F;tracte Theil des Ge&#x017F;chäfts auf<lb/>
das Wörtchen: <hi rendition="#aq">spondes?</hi> &#x2014; ein Blankett, das man mit be-<lb/>
liebigem Inhalt und in beliebiger Ordnung ausfüllen mochte.</p><lb/>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[612/0318] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. bloße, dem Geſchäft anzuheftende Etikette. Begreiflicherweiſe mußte überall dem concreten Inhalte des Geſchäfts Raum ge- laſſen werden ſich zu entfalten, jedes einzelne Geſchäft beſtand nothwendigerweiſe aus einer Combination eines abſtracten und concreten Beſtandtheils. Aber in ſehr verſchiedener Weiſe. Es liegt z. B. auf der Hand, daß der Proceß ſich nicht aus- ſchließlich in feſt beſtimmten Formeln bewegen konnte, der freien Verhandlung der Partheien mußte ein angemeſſener Spielraum gelaſſen werden, und nur für die entſcheidenden Momente des- ſelben mochte man zur beſtimmteren Hervorhebung derſelben die Benutzung einer Formel verlangen. 795) Eine Fixirung und Concentrirung des eigentlichen Streitpunktes in Form einer Theſis iſt namentlich für den Proceß ebenſo heilſam, als für eine Disputation. Ohne die der Verhandlung nöthige Freiheit zu beeinträchtigen, verhindert ſie, daß der Streit ſich nicht ins Un- beſtimmte verliere, und ſchließlich gar der eigentliche Streitpunkt ſelbſt zweifelhaft werde. Unſer heutiger Proceß macht den Man- gel dieſer Einrichtung vielfach ſehr fühlbar. Im Unterſchiede vom Proceß war dagegen das Teſtament, ſowohl rückſichtlich ſeiner Einrichtung im Ganzen als ſeiner ein- zelnen Dispoſitionen von Anfang bis zu Ende ausſchließlich an feſte Formeln gebunden, es gab in ihm kein Fleckchen, auf dem man ſich frei hätte bewegen können. Die Einſetzung des Erben, die Enterbung, die Vermächtniſſe, die Ernennung des Vormun- des, die Anſprache an den familiae emtor und deſſen Antwort — alles hatte ſeine beſtimmte Form und zum Theil auch ſeine beſtimmte Ordnung (ſ. u.). Bei der Stipulation hingegen be- ſchränkte ſich der feſte oder abſtracte Theil des Geſchäfts auf das Wörtchen: spondes? — ein Blankett, das man mit be- liebigem Inhalt und in beliebiger Ordnung ausfüllen mochte. 795) In der Vindicationsformel bei Gajus IV, 16 wird auf einen ſol- chen vorausgegangenen freien Vertrag der Parthei Bezug genommen: .. secundum suam causam, sicut dixi.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/318
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/318>, abgerufen am 23.11.2024.