Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
volle Stimmung und Haltung in den praktischen Fragen der Gegenwart hervorrufen, die wir mit Recht an den alten Rö- mern und Engländern bewundern. Das Festhalten an den überkommenen Formen, selbst nachdem sich dieselben überlebt haben, ist wie einerseits ein Ausfluß, so andererseits eine un- versiegbare Quelle jenes historischen Sinns, ohne den in Staat und Kirche noch nie ein fester Bau gelungen ist.
Zu diesem ersten Grunde, der den historischen Sinn die For- men als solche lieben, schätzen und pflegen lehrt, diesem, wenn ich so sagen darf, allgemein pädagogischen Werth dersel- ben für den Volkscharakter gesellt sich sodann als zweiter der er- haltende Einfluß, den die Formen auf die Ideen, Einrichtungen u. s. w. ausüben, die in ihnen ihren äußern Ausdruck finden. Je kräftiger diese ihre Außenseite entwickelt ist, desto höher ihre eigne Lebenskraft. Denn mit den Formen schmiegen und klam- mern die Ideen und Einrichtungen sich fest an die sinnliche Welt, an die äußere Weise des Lebens, an das Erinnerungs- vermögen des Auges, an die Macht der äußeren Gewohnheit. Wird dadurch schon unter gewöhnlichen Umständen ihre Exi- stenz und Kraft gesichert und erhöht, so tritt doch der unschätz- bare Werth des Rückhalts, den sie damit gewonnen, erst unter ganz besondern Verhältnissen in sein volles Licht. Für alle Ideen -- ich habe im Folgenden vorzugsweise, aber nicht aus- schließlich die religiösen im Auge -- für alle Ideen also gibt es Perioden der vorübergehenden Lauheit und Gleichgültigkeit, des Ermattens und des Abfalls, Perioden der Prüfung und Gefahr, bei denen es sich für sie um Sein und Nichtsein han- delt. Ideen, die rein auf sich selbst gestellt sind d. h. jenes Rückhaltes der Form entbehren, verlieren mit der moralischen Macht über die Gemüther ihre Existenz, sie gehen unter, indem sie dem Volk abhanden kommen, und es kostet, wann die feind- liche Strömung der Zeit sich verlaufen, einen neuen Kampf, sie wieder ins Leben zu rufen, eine neue Geburt und neue Geburts- wehen. Anders aber bei denjenigen, die sich in festen, äußern
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
volle Stimmung und Haltung in den praktiſchen Fragen der Gegenwart hervorrufen, die wir mit Recht an den alten Rö- mern und Engländern bewundern. Das Feſthalten an den überkommenen Formen, ſelbſt nachdem ſich dieſelben überlebt haben, iſt wie einerſeits ein Ausfluß, ſo andererſeits eine un- verſiegbare Quelle jenes hiſtoriſchen Sinns, ohne den in Staat und Kirche noch nie ein feſter Bau gelungen iſt.
Zu dieſem erſten Grunde, der den hiſtoriſchen Sinn die For- men als ſolche lieben, ſchätzen und pflegen lehrt, dieſem, wenn ich ſo ſagen darf, allgemein pädagogiſchen Werth derſel- ben für den Volkscharakter geſellt ſich ſodann als zweiter der er- haltende Einfluß, den die Formen auf die Ideen, Einrichtungen u. ſ. w. ausüben, die in ihnen ihren äußern Ausdruck finden. Je kräftiger dieſe ihre Außenſeite entwickelt iſt, deſto höher ihre eigne Lebenskraft. Denn mit den Formen ſchmiegen und klam- mern die Ideen und Einrichtungen ſich feſt an die ſinnliche Welt, an die äußere Weiſe des Lebens, an das Erinnerungs- vermögen des Auges, an die Macht der äußeren Gewohnheit. Wird dadurch ſchon unter gewöhnlichen Umſtänden ihre Exi- ſtenz und Kraft geſichert und erhöht, ſo tritt doch der unſchätz- bare Werth des Rückhalts, den ſie damit gewonnen, erſt unter ganz beſondern Verhältniſſen in ſein volles Licht. Für alle Ideen — ich habe im Folgenden vorzugsweiſe, aber nicht aus- ſchließlich die religiöſen im Auge — für alle Ideen alſo gibt es Perioden der vorübergehenden Lauheit und Gleichgültigkeit, des Ermattens und des Abfalls, Perioden der Prüfung und Gefahr, bei denen es ſich für ſie um Sein und Nichtſein han- delt. Ideen, die rein auf ſich ſelbſt geſtellt ſind d. h. jenes Rückhaltes der Form entbehren, verlieren mit der moraliſchen Macht über die Gemüther ihre Exiſtenz, ſie gehen unter, indem ſie dem Volk abhanden kommen, und es koſtet, wann die feind- liche Strömung der Zeit ſich verlaufen, einen neuen Kampf, ſie wieder ins Leben zu rufen, eine neue Geburt und neue Geburts- wehen. Anders aber bei denjenigen, die ſich in feſten, äußern
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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
volle Stimmung und Haltung in den praktiſchen Fragen der
Gegenwart hervorrufen, die wir mit Recht an den alten Rö-
mern und Engländern bewundern. Das Feſthalten an den
überkommenen Formen, ſelbſt nachdem ſich dieſelben überlebt
haben, iſt wie einerſeits ein Ausfluß, ſo andererſeits eine un-
verſiegbare Quelle jenes hiſtoriſchen Sinns, ohne den in Staat
und Kirche noch nie ein feſter Bau gelungen iſt.
Zu dieſem erſten Grunde, der den hiſtoriſchen Sinn die For-
men als ſolche lieben, ſchätzen und pflegen lehrt, dieſem, wenn
ich ſo ſagen darf, allgemein pädagogiſchen Werth derſel-
ben für den Volkscharakter geſellt ſich ſodann als zweiter der er-
haltende Einfluß, den die Formen auf die Ideen, Einrichtungen
u. ſ. w. ausüben, die in ihnen ihren äußern Ausdruck finden.
Je kräftiger dieſe ihre Außenſeite entwickelt iſt, deſto höher ihre
eigne Lebenskraft. Denn mit den Formen ſchmiegen und klam-
mern die Ideen und Einrichtungen ſich feſt an die ſinnliche
Welt, an die äußere Weiſe des Lebens, an das Erinnerungs-
vermögen des Auges, an die Macht der äußeren Gewohnheit.
Wird dadurch ſchon unter gewöhnlichen Umſtänden ihre Exi-
ſtenz und Kraft geſichert und erhöht, ſo tritt doch der unſchätz-
bare Werth des Rückhalts, den ſie damit gewonnen, erſt unter
ganz beſondern Verhältniſſen in ſein volles Licht. Für alle
Ideen — ich habe im Folgenden vorzugsweiſe, aber nicht aus-
ſchließlich die religiöſen im Auge — für alle Ideen alſo gibt es
Perioden der vorübergehenden Lauheit und Gleichgültigkeit,
des Ermattens und des Abfalls, Perioden der Prüfung und
Gefahr, bei denen es ſich für ſie um Sein und Nichtſein han-
delt. Ideen, die rein auf ſich ſelbſt geſtellt ſind d. h. jenes
Rückhaltes der Form entbehren, verlieren mit der moraliſchen
Macht über die Gemüther ihre Exiſtenz, ſie gehen unter, indem
ſie dem Volk abhanden kommen, und es koſtet, wann die feind-
liche Strömung der Zeit ſich verlaufen, einen neuen Kampf, ſie
wieder ins Leben zu rufen, eine neue Geburt und neue Geburts-
wehen. Anders aber bei denjenigen, die ſich in feſten, äußern
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/249>, abgerufen am 16.07.2024.
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