Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. volle Stimmung und Haltung in den praktischen Fragen derGegenwart hervorrufen, die wir mit Recht an den alten Rö- mern und Engländern bewundern. Das Festhalten an den überkommenen Formen, selbst nachdem sich dieselben überlebt haben, ist wie einerseits ein Ausfluß, so andererseits eine un- versiegbare Quelle jenes historischen Sinns, ohne den in Staat und Kirche noch nie ein fester Bau gelungen ist. Zu diesem ersten Grunde, der den historischen Sinn die For- Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. volle Stimmung und Haltung in den praktiſchen Fragen derGegenwart hervorrufen, die wir mit Recht an den alten Rö- mern und Engländern bewundern. Das Feſthalten an den überkommenen Formen, ſelbſt nachdem ſich dieſelben überlebt haben, iſt wie einerſeits ein Ausfluß, ſo andererſeits eine un- verſiegbare Quelle jenes hiſtoriſchen Sinns, ohne den in Staat und Kirche noch nie ein feſter Bau gelungen iſt. Zu dieſem erſten Grunde, der den hiſtoriſchen Sinn die For- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <p><pb facs="#f0249" n="543"/><fw place="top" type="header">Haften an der Aeußerlichkeit. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Formalismus. §. 45.</fw><lb/> volle Stimmung und Haltung in den praktiſchen Fragen der<lb/> Gegenwart hervorrufen, die wir mit Recht an den alten Rö-<lb/> mern und Engländern bewundern. Das Feſthalten an den<lb/> überkommenen Formen, ſelbſt nachdem ſich dieſelben überlebt<lb/> haben, iſt wie einerſeits ein Ausfluß, ſo andererſeits eine un-<lb/> verſiegbare Quelle jenes hiſtoriſchen Sinns, ohne den in Staat<lb/> und Kirche noch nie ein feſter Bau gelungen iſt.</p><lb/> <p>Zu dieſem <hi rendition="#g">erſten</hi> Grunde, der den hiſtoriſchen Sinn die For-<lb/> men als ſolche lieben, ſchätzen und pflegen lehrt, dieſem, wenn<lb/> ich ſo ſagen darf, <hi rendition="#g">allgemein pädagogiſchen</hi> Werth derſel-<lb/> ben für den Volkscharakter geſellt ſich ſodann als zweiter der er-<lb/> haltende Einfluß, den die Formen auf die Ideen, Einrichtungen<lb/> u. ſ. w. ausüben, die in ihnen ihren äußern Ausdruck finden.<lb/> Je kräftiger dieſe ihre Außenſeite entwickelt iſt, deſto höher ihre<lb/> eigne Lebenskraft. Denn mit den Formen ſchmiegen und klam-<lb/> mern die Ideen und Einrichtungen ſich feſt an die ſinnliche<lb/> Welt, an die äußere Weiſe des Lebens, an das Erinnerungs-<lb/> vermögen des Auges, an die Macht der äußeren Gewohnheit.<lb/> Wird dadurch ſchon unter gewöhnlichen Umſtänden ihre Exi-<lb/> ſtenz und Kraft geſichert und erhöht, ſo tritt doch der unſchätz-<lb/> bare Werth des Rückhalts, den ſie damit gewonnen, erſt unter<lb/> ganz beſondern Verhältniſſen in ſein volles Licht. Für alle<lb/> Ideen — ich habe im Folgenden vorzugsweiſe, aber nicht aus-<lb/> ſchließlich die religiöſen im Auge — für alle Ideen alſo gibt es<lb/> Perioden der vorübergehenden Lauheit und Gleichgültigkeit,<lb/> des Ermattens und des Abfalls, Perioden der Prüfung und<lb/> Gefahr, bei denen es ſich für ſie um Sein und Nichtſein han-<lb/> delt. Ideen, die rein auf ſich ſelbſt geſtellt ſind d. h. jenes<lb/> Rückhaltes der Form entbehren, verlieren mit der moraliſchen<lb/> Macht über die Gemüther ihre Exiſtenz, ſie gehen unter, indem<lb/> ſie dem Volk abhanden kommen, und es koſtet, wann die feind-<lb/> liche Strömung der Zeit ſich verlaufen, einen neuen Kampf, ſie<lb/> wieder ins Leben zu rufen, eine neue Geburt und neue Geburts-<lb/> wehen. Anders aber bei denjenigen, die ſich in feſten, äußern<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [543/0249]
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
volle Stimmung und Haltung in den praktiſchen Fragen der
Gegenwart hervorrufen, die wir mit Recht an den alten Rö-
mern und Engländern bewundern. Das Feſthalten an den
überkommenen Formen, ſelbſt nachdem ſich dieſelben überlebt
haben, iſt wie einerſeits ein Ausfluß, ſo andererſeits eine un-
verſiegbare Quelle jenes hiſtoriſchen Sinns, ohne den in Staat
und Kirche noch nie ein feſter Bau gelungen iſt.
Zu dieſem erſten Grunde, der den hiſtoriſchen Sinn die For-
men als ſolche lieben, ſchätzen und pflegen lehrt, dieſem, wenn
ich ſo ſagen darf, allgemein pädagogiſchen Werth derſel-
ben für den Volkscharakter geſellt ſich ſodann als zweiter der er-
haltende Einfluß, den die Formen auf die Ideen, Einrichtungen
u. ſ. w. ausüben, die in ihnen ihren äußern Ausdruck finden.
Je kräftiger dieſe ihre Außenſeite entwickelt iſt, deſto höher ihre
eigne Lebenskraft. Denn mit den Formen ſchmiegen und klam-
mern die Ideen und Einrichtungen ſich feſt an die ſinnliche
Welt, an die äußere Weiſe des Lebens, an das Erinnerungs-
vermögen des Auges, an die Macht der äußeren Gewohnheit.
Wird dadurch ſchon unter gewöhnlichen Umſtänden ihre Exi-
ſtenz und Kraft geſichert und erhöht, ſo tritt doch der unſchätz-
bare Werth des Rückhalts, den ſie damit gewonnen, erſt unter
ganz beſondern Verhältniſſen in ſein volles Licht. Für alle
Ideen — ich habe im Folgenden vorzugsweiſe, aber nicht aus-
ſchließlich die religiöſen im Auge — für alle Ideen alſo gibt es
Perioden der vorübergehenden Lauheit und Gleichgültigkeit,
des Ermattens und des Abfalls, Perioden der Prüfung und
Gefahr, bei denen es ſich für ſie um Sein und Nichtſein han-
delt. Ideen, die rein auf ſich ſelbſt geſtellt ſind d. h. jenes
Rückhaltes der Form entbehren, verlieren mit der moraliſchen
Macht über die Gemüther ihre Exiſtenz, ſie gehen unter, indem
ſie dem Volk abhanden kommen, und es koſtet, wann die feind-
liche Strömung der Zeit ſich verlaufen, einen neuen Kampf, ſie
wieder ins Leben zu rufen, eine neue Geburt und neue Geburts-
wehen. Anders aber bei denjenigen, die ſich in feſten, äußern
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