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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
Solennien beibehalten wurden, während sie im ernstlichen Ge-
brauch des Lebens durch den Wechsel der Mode oder durch die
Fortschritte der Technik verdrängt wurden. Dadurch wird, was
bis dahin keine Form, sondern ein flüssiges, freies Stück des
damaligen Lebens war, zur reinen Form -- ein versteinertes
Stück Vergangenheit, das oft seltsam in die spätere Zeit hin-
einragt. Der Sprecher des englischen Unterhauses trägt be-
kanntlich noch bis auf den heutigen Tag seine aus früherer
Zeit stammende gewaltige Perücke; während dieselbe von den
andern Köpfen verschwand, ist sie auf dem seinigen als "resi-
duäre Perücke" sitzen geblieben -- ein Beispiel, zu dem auf dem
Continent Hamburg ein Seitenstück gibt, das sich ebenfalls für
gewisse Gelegenheiten z. B. Leichenbegängnisse -- die residuä-
ren Perücken nicht hat nehmen lassen.

Die älteste Getreideart, welche die Römer oder ihre Vorfah-
ren bauten, war der Spelt (far), die älteste Art des Brodes
der Teig (puls). Im Leben hatten beide längst anderen Arten
und Zubereitungsweisen Platz gemacht, allein im religiösen
Ritus und namentlich auch bei Eingehung der Ehe durch Con-
farreation hielt man an jenen fest. In uralter Zeit hatte man sich
zum Schneiden in Ermangelung von Messern und Scheeren des
Speeres bedient, und so auch der Bräutigam bei Eingehung
der Ehe, um der Braut das Haar zu schneiden. Ueberall war
der Speer gewichen, allein in den Händen des Bräutigams hielt
er sich nach wie vor (hasta caelibaris). Ebenso verhält es sich
mit dem Kopftuch der Braut (flammeum). Die Mode kannte
längst bessere Gewebe, aber die Braut bei der Hochzeit und die
Priesterin durften sich von der ältesten Form nicht lossagen. 676)
Vor Einführung des geprägten Geldes war man gezwungen, das

676) Ueber diese von den Hochzeitsgebräuchen hergenommenen Beispiele
vergl. Roßbach Untersuchungen über die röm. Ehe. S. 104, 282, 291. Ein
anderes Beispiel bei Plin. Hist. Nat. XXXIII, c. 4 .. quo argumento
etiam nunc sponsae muneri ferreus auulus mittitur isque sine
gemma
.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Solennien beibehalten wurden, während ſie im ernſtlichen Ge-
brauch des Lebens durch den Wechſel der Mode oder durch die
Fortſchritte der Technik verdrängt wurden. Dadurch wird, was
bis dahin keine Form, ſondern ein flüſſiges, freies Stück des
damaligen Lebens war, zur reinen Form — ein verſteinertes
Stück Vergangenheit, das oft ſeltſam in die ſpätere Zeit hin-
einragt. Der Sprecher des engliſchen Unterhauſes trägt be-
kanntlich noch bis auf den heutigen Tag ſeine aus früherer
Zeit ſtammende gewaltige Perücke; während dieſelbe von den
andern Köpfen verſchwand, iſt ſie auf dem ſeinigen als „reſi-
duäre Perücke“ ſitzen geblieben — ein Beiſpiel, zu dem auf dem
Continent Hamburg ein Seitenſtück gibt, das ſich ebenfalls für
gewiſſe Gelegenheiten z. B. Leichenbegängniſſe — die reſiduä-
ren Perücken nicht hat nehmen laſſen.

Die älteſte Getreideart, welche die Römer oder ihre Vorfah-
ren bauten, war der Spelt (far), die älteſte Art des Brodes
der Teig (puls). Im Leben hatten beide längſt anderen Arten
und Zubereitungsweiſen Platz gemacht, allein im religiöſen
Ritus und namentlich auch bei Eingehung der Ehe durch Con-
farreation hielt man an jenen feſt. In uralter Zeit hatte man ſich
zum Schneiden in Ermangelung von Meſſern und Scheeren des
Speeres bedient, und ſo auch der Bräutigam bei Eingehung
der Ehe, um der Braut das Haar zu ſchneiden. Ueberall war
der Speer gewichen, allein in den Händen des Bräutigams hielt
er ſich nach wie vor (hasta caelibaris). Ebenſo verhält es ſich
mit dem Kopftuch der Braut (flammeum). Die Mode kannte
längſt beſſere Gewebe, aber die Braut bei der Hochzeit und die
Prieſterin durften ſich von der älteſten Form nicht losſagen. 676)
Vor Einführung des geprägten Geldes war man gezwungen, das

676) Ueber dieſe von den Hochzeitsgebräuchen hergenommenen Beiſpiele
vergl. Roßbach Unterſuchungen über die röm. Ehe. S. 104, 282, 291. Ein
anderes Beiſpiel bei Plin. Hist. Nat. XXXIII, c. 4 .. quo argumento
etiam nunc sponsae muneri ferreus auulus mittitur isque sine
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[538/0244] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. Solennien beibehalten wurden, während ſie im ernſtlichen Ge- brauch des Lebens durch den Wechſel der Mode oder durch die Fortſchritte der Technik verdrängt wurden. Dadurch wird, was bis dahin keine Form, ſondern ein flüſſiges, freies Stück des damaligen Lebens war, zur reinen Form — ein verſteinertes Stück Vergangenheit, das oft ſeltſam in die ſpätere Zeit hin- einragt. Der Sprecher des engliſchen Unterhauſes trägt be- kanntlich noch bis auf den heutigen Tag ſeine aus früherer Zeit ſtammende gewaltige Perücke; während dieſelbe von den andern Köpfen verſchwand, iſt ſie auf dem ſeinigen als „reſi- duäre Perücke“ ſitzen geblieben — ein Beiſpiel, zu dem auf dem Continent Hamburg ein Seitenſtück gibt, das ſich ebenfalls für gewiſſe Gelegenheiten z. B. Leichenbegängniſſe — die reſiduä- ren Perücken nicht hat nehmen laſſen. Die älteſte Getreideart, welche die Römer oder ihre Vorfah- ren bauten, war der Spelt (far), die älteſte Art des Brodes der Teig (puls). Im Leben hatten beide längſt anderen Arten und Zubereitungsweiſen Platz gemacht, allein im religiöſen Ritus und namentlich auch bei Eingehung der Ehe durch Con- farreation hielt man an jenen feſt. In uralter Zeit hatte man ſich zum Schneiden in Ermangelung von Meſſern und Scheeren des Speeres bedient, und ſo auch der Bräutigam bei Eingehung der Ehe, um der Braut das Haar zu ſchneiden. Ueberall war der Speer gewichen, allein in den Händen des Bräutigams hielt er ſich nach wie vor (hasta caelibaris). Ebenſo verhält es ſich mit dem Kopftuch der Braut (flammeum). Die Mode kannte längſt beſſere Gewebe, aber die Braut bei der Hochzeit und die Prieſterin durften ſich von der älteſten Form nicht losſagen. 676) Vor Einführung des geprägten Geldes war man gezwungen, das 676) Ueber dieſe von den Hochzeitsgebräuchen hergenommenen Beiſpiele vergl. Roßbach Unterſuchungen über die röm. Ehe. S. 104, 282, 291. Ein anderes Beiſpiel bei Plin. Hist. Nat. XXXIII, c. 4 .. quo argumento etiam nunc sponsae muneri ferreus auulus mittitur isque sine gemma.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/244>, abgerufen am 25.11.2024.