Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. sten Mißbrauch des Vertrauens, ich sage nicht einmal ungestraft,sondern selbst ungerügt zu lassen, ja dem Richter die Pflicht auf- zulegen, dazu nöthigenfalls seinen Arm zu leihen, und der Schlechtigkeit und dem Betruge, wie oben zugegeben, in der Form einen sichern Schlupfwinkel zu eröffnen! Welchen ver- derblichen Einfluß muß der tägliche Anblick dieses Schauspiels auf das Rechtsgefühl des Volks ausüben. Heißt nicht die Stimme desselben zum Schweigen bringen: dasselbe abtödten, heißt nicht die Form als das allein Entscheidende hinstellen: das Fundament allen Verkehrs, die Treue, untergraben, den Schwerpunkt desselben verrücken? Und was ist darauf zu antworten? Zunächst und vor al- Höher noch, als das bloße Wort steht der Eid, und diesel- Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. ſten Mißbrauch des Vertrauens, ich ſage nicht einmal ungeſtraft,ſondern ſelbſt ungerügt zu laſſen, ja dem Richter die Pflicht auf- zulegen, dazu nöthigenfalls ſeinen Arm zu leihen, und der Schlechtigkeit und dem Betruge, wie oben zugegeben, in der Form einen ſichern Schlupfwinkel zu eröffnen! Welchen ver- derblichen Einfluß muß der tägliche Anblick dieſes Schauſpiels auf das Rechtsgefühl des Volks ausüben. Heißt nicht die Stimme deſſelben zum Schweigen bringen: daſſelbe abtödten, heißt nicht die Form als das allein Entſcheidende hinſtellen: das Fundament allen Verkehrs, die Treue, untergraben, den Schwerpunkt deſſelben verrücken? Und was iſt darauf zu antworten? Zunächſt und vor al- Höher noch, als das bloße Wort ſteht der Eid, und dieſel- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <div n="9"> <p><pb facs="#f0223" n="517"/><fw place="top" type="header">Haften an der Aeußerlichkeit. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Formalismus. §. 45.</fw><lb/> ſten Mißbrauch des Vertrauens, ich ſage nicht einmal ungeſtraft,<lb/> ſondern ſelbſt ungerügt zu laſſen, ja dem Richter die Pflicht auf-<lb/> zulegen, dazu nöthigenfalls ſeinen Arm zu leihen, und der<lb/> Schlechtigkeit und dem Betruge, wie oben zugegeben, in der<lb/> Form einen ſichern Schlupfwinkel zu eröffnen! Welchen ver-<lb/> derblichen Einfluß muß der tägliche Anblick dieſes Schauſpiels<lb/> auf das Rechtsgefühl des Volks ausüben. Heißt nicht die<lb/> Stimme deſſelben zum Schweigen bringen: daſſelbe abtödten,<lb/> heißt nicht die Form als das allein Entſcheidende hinſtellen:<lb/> das Fundament allen Verkehrs, die <hi rendition="#g">Treue</hi>, untergraben, den<lb/> Schwerpunkt deſſelben verrücken?</p><lb/> <p>Und was iſt darauf zu antworten? Zunächſt und vor al-<lb/> lem, daß dieſe ganze Anklage von einer totalen Verkennung der<lb/> eigenthümlichen Aufgabe des Rechts gegenüber der der Moral<lb/> zeugen würde — ein Fehler, der freilich häufiger (und nicht bloß<lb/> bei dieſer Frage) begangen wird, als man es erwarten ſollte,<lb/> den ich aber am wenigſten bei dieſer Veranlaſſung Beruf in<lb/> mir fühle zu berichtigen. Ueberhaupt liegt es nicht in meiner<lb/> Abſicht, gegen jene Anklage ernſtlich zu Felde zu ziehen. Wer<lb/> einiges Nachdenken daran ſetzen will, für den werden, wie ich<lb/> hoffe, folgende Andeutungen vollkommen genügen.</p><lb/> <p>Höher noch, als das bloße Wort ſteht der Eid, und dieſel-<lb/> ben ethiſchen Gründe, aus denen man vom Geſetzgeber begeh-<lb/> ren könnte, daß er das formloſe Verſprechen für erzwingbar er-<lb/> kläre, könnten in verſtärktem Maße für das eidliche Verſprechen<lb/> in die Wagſchale geworfen werden. Das canoniſche Recht hat<lb/> denn in der That die Erzwingbarkeit deſſelben feſtgeſetzt, und<lb/> gerade damit ein lehrreiches Beiſpiel dafür geliefert, wohin es<lb/> führt, wenn der Geſetzgeber moraliſche Anforderungen zu recht-<lb/> lichen erhebt. Durch jene Beſtimmung nämlich ward der Eid<lb/> zu einem Mittel, um die heilſamſten Beſtimmungen des Rechts<lb/> zu vereiteln. Alle Schutzmaßregeln, die das Recht für das<lb/> Subject getroffen, waren beſeitigt, ſo wie geſchworen war, und<lb/> hätte nicht das canoniſche Recht eine Art von Taſchenſpieler-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [517/0223]
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
ſten Mißbrauch des Vertrauens, ich ſage nicht einmal ungeſtraft,
ſondern ſelbſt ungerügt zu laſſen, ja dem Richter die Pflicht auf-
zulegen, dazu nöthigenfalls ſeinen Arm zu leihen, und der
Schlechtigkeit und dem Betruge, wie oben zugegeben, in der
Form einen ſichern Schlupfwinkel zu eröffnen! Welchen ver-
derblichen Einfluß muß der tägliche Anblick dieſes Schauſpiels
auf das Rechtsgefühl des Volks ausüben. Heißt nicht die
Stimme deſſelben zum Schweigen bringen: daſſelbe abtödten,
heißt nicht die Form als das allein Entſcheidende hinſtellen:
das Fundament allen Verkehrs, die Treue, untergraben, den
Schwerpunkt deſſelben verrücken?
Und was iſt darauf zu antworten? Zunächſt und vor al-
lem, daß dieſe ganze Anklage von einer totalen Verkennung der
eigenthümlichen Aufgabe des Rechts gegenüber der der Moral
zeugen würde — ein Fehler, der freilich häufiger (und nicht bloß
bei dieſer Frage) begangen wird, als man es erwarten ſollte,
den ich aber am wenigſten bei dieſer Veranlaſſung Beruf in
mir fühle zu berichtigen. Ueberhaupt liegt es nicht in meiner
Abſicht, gegen jene Anklage ernſtlich zu Felde zu ziehen. Wer
einiges Nachdenken daran ſetzen will, für den werden, wie ich
hoffe, folgende Andeutungen vollkommen genügen.
Höher noch, als das bloße Wort ſteht der Eid, und dieſel-
ben ethiſchen Gründe, aus denen man vom Geſetzgeber begeh-
ren könnte, daß er das formloſe Verſprechen für erzwingbar er-
kläre, könnten in verſtärktem Maße für das eidliche Verſprechen
in die Wagſchale geworfen werden. Das canoniſche Recht hat
denn in der That die Erzwingbarkeit deſſelben feſtgeſetzt, und
gerade damit ein lehrreiches Beiſpiel dafür geliefert, wohin es
führt, wenn der Geſetzgeber moraliſche Anforderungen zu recht-
lichen erhebt. Durch jene Beſtimmung nämlich ward der Eid
zu einem Mittel, um die heilſamſten Beſtimmungen des Rechts
zu vereiteln. Alle Schutzmaßregeln, die das Recht für das
Subject getroffen, waren beſeitigt, ſo wie geſchworen war, und
hätte nicht das canoniſche Recht eine Art von Taſchenſpieler-
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