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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
sich? Der preußische Gesetzgeber verlegt das Contrahiren von
dem Markt und der Straße auf die Stube und den Schreibtisch,
das römische Recht umgekehrt von letzteren auf jene -- beides
für sie und ihre Zeit gleich charakteristisch. Ist Errichtung vor
Zeugen, vor Gericht oder vor dem Notar vorgeschrieben, so
muß man, um zu contrahiren, erst die Zeugen suchen, vor
Gericht oder dem Notar erscheinen. Wie nun, wenn die Zeu-
gen nicht zu haben z. B. in einsamer Gegend oder bei einer
herrschenden Epidemie die 7 Testamentszeugen,660) wie, wenn
die Gerichtsstätte weit entfernt,661) oder die Umstände zum
sofortigen Abschluß drängen, und Richter und Notar nicht so-
fort zu haben sind, oder der Vertrag die Kosten nicht trägt? Man
sieht, daß jede Form, wie sie auch sei, ihre eigenthümlichen
Nachtheile hat, durch die sich der Verkehr mehr oder minder be-
engt fühlen muß.

Die unvermeidliche Folge davon ist, daß er sich in dring-
lichen Fällen der Form entschlägt, ein unförmliches (im Ge-
gensatz zum formlosen ein der Form an sich bedürftiges, aber
ihrer ermangelndes) Rechtsgeschäft abschließt. Eine rechtliche
Wirkung hat dasselbe nicht, seine Wirkung ist ausschließlich auf
den guten Willen des Verpflichteten, auf seine Scheu vor der
öffentlichen Meinung, seine Redlichkeit, Zuverlässigkeit, kurz
die bona fides gestellt. Diese Flucht des Verkehrs vor der
lästigen Form wiederholt sich überall, und zwar meine ich nicht

660) Hierauf beruhen zwei Formen der erleichterten Testamentserrich-
tung, das testamentum ruri und tempore pestis conditum. Die Gestalt des
Soldatentestaments hängt nur zum Theil damit zusammen, wohl aber das
Aufkommen und die Zulassung der Fideicommisse.
661) Hierin lag eine der Ursachen der unförmlichen Rechtsgeschäfte der
Römer in Fällen, in denen es der in jure cessio d. h. für Entfernte einer
Reise nach Rom bedurfte, z. B. der unförmlichen Freilassung. Die be-
schränkte Anerkennung, die der Prätor der letzteren gewährte, war nur eine
billige Berücksichtigung der in der Form gelegenen Inconvenienz, ähnlich
wie in Anm. 659 und 660. Daß aber auch andere Motive mitwirkten, wer-
den wir im dritten System zeigen.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſich? Der preußiſche Geſetzgeber verlegt das Contrahiren von
dem Markt und der Straße auf die Stube und den Schreibtiſch,
das römiſche Recht umgekehrt von letzteren auf jene — beides
für ſie und ihre Zeit gleich charakteriſtiſch. Iſt Errichtung vor
Zeugen, vor Gericht oder vor dem Notar vorgeſchrieben, ſo
muß man, um zu contrahiren, erſt die Zeugen ſuchen, vor
Gericht oder dem Notar erſcheinen. Wie nun, wenn die Zeu-
gen nicht zu haben z. B. in einſamer Gegend oder bei einer
herrſchenden Epidemie die 7 Teſtamentszeugen,660) wie, wenn
die Gerichtsſtätte weit entfernt,661) oder die Umſtände zum
ſofortigen Abſchluß drängen, und Richter und Notar nicht ſo-
fort zu haben ſind, oder der Vertrag die Koſten nicht trägt? Man
ſieht, daß jede Form, wie ſie auch ſei, ihre eigenthümlichen
Nachtheile hat, durch die ſich der Verkehr mehr oder minder be-
engt fühlen muß.

Die unvermeidliche Folge davon iſt, daß er ſich in dring-
lichen Fällen der Form entſchlägt, ein unförmliches (im Ge-
genſatz zum formloſen ein der Form an ſich bedürftiges, aber
ihrer ermangelndes) Rechtsgeſchäft abſchließt. Eine rechtliche
Wirkung hat daſſelbe nicht, ſeine Wirkung iſt ausſchließlich auf
den guten Willen des Verpflichteten, auf ſeine Scheu vor der
öffentlichen Meinung, ſeine Redlichkeit, Zuverläſſigkeit, kurz
die bona fides geſtellt. Dieſe Flucht des Verkehrs vor der
läſtigen Form wiederholt ſich überall, und zwar meine ich nicht

660) Hierauf beruhen zwei Formen der erleichterten Teſtamentserrich-
tung, das testamentum ruri und tempore pestis conditum. Die Geſtalt des
Soldatenteſtaments hängt nur zum Theil damit zuſammen, wohl aber das
Aufkommen und die Zulaſſung der Fideicommiſſe.
661) Hierin lag eine der Urſachen der unförmlichen Rechtsgeſchäfte der
Römer in Fällen, in denen es der in jure cessio d. h. für Entfernte einer
Reiſe nach Rom bedurfte, z. B. der unförmlichen Freilaſſung. Die be-
ſchränkte Anerkennung, die der Prätor der letzteren gewährte, war nur eine
billige Berückſichtigung der in der Form gelegenen Inconvenienz, ähnlich
wie in Anm. 659 und 660. Daß aber auch andere Motive mitwirkten, wer-
den wir im dritten Syſtem zeigen.
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[514/0220] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. ſich? Der preußiſche Geſetzgeber verlegt das Contrahiren von dem Markt und der Straße auf die Stube und den Schreibtiſch, das römiſche Recht umgekehrt von letzteren auf jene — beides für ſie und ihre Zeit gleich charakteriſtiſch. Iſt Errichtung vor Zeugen, vor Gericht oder vor dem Notar vorgeſchrieben, ſo muß man, um zu contrahiren, erſt die Zeugen ſuchen, vor Gericht oder dem Notar erſcheinen. Wie nun, wenn die Zeu- gen nicht zu haben z. B. in einſamer Gegend oder bei einer herrſchenden Epidemie die 7 Teſtamentszeugen, 660) wie, wenn die Gerichtsſtätte weit entfernt, 661) oder die Umſtände zum ſofortigen Abſchluß drängen, und Richter und Notar nicht ſo- fort zu haben ſind, oder der Vertrag die Koſten nicht trägt? Man ſieht, daß jede Form, wie ſie auch ſei, ihre eigenthümlichen Nachtheile hat, durch die ſich der Verkehr mehr oder minder be- engt fühlen muß. Die unvermeidliche Folge davon iſt, daß er ſich in dring- lichen Fällen der Form entſchlägt, ein unförmliches (im Ge- genſatz zum formloſen ein der Form an ſich bedürftiges, aber ihrer ermangelndes) Rechtsgeſchäft abſchließt. Eine rechtliche Wirkung hat daſſelbe nicht, ſeine Wirkung iſt ausſchließlich auf den guten Willen des Verpflichteten, auf ſeine Scheu vor der öffentlichen Meinung, ſeine Redlichkeit, Zuverläſſigkeit, kurz die bona fides geſtellt. Dieſe Flucht des Verkehrs vor der läſtigen Form wiederholt ſich überall, und zwar meine ich nicht 660) Hierauf beruhen zwei Formen der erleichterten Teſtamentserrich- tung, das testamentum ruri und tempore pestis conditum. Die Geſtalt des Soldatenteſtaments hängt nur zum Theil damit zuſammen, wohl aber das Aufkommen und die Zulaſſung der Fideicommiſſe. 661) Hierin lag eine der Urſachen der unförmlichen Rechtsgeſchäfte der Römer in Fällen, in denen es der in jure cessio d. h. für Entfernte einer Reiſe nach Rom bedurfte, z. B. der unförmlichen Freilaſſung. Die be- ſchränkte Anerkennung, die der Prätor der letzteren gewährte, war nur eine billige Berückſichtigung der in der Form gelegenen Inconvenienz, ähnlich wie in Anm. 659 und 660. Daß aber auch andere Motive mitwirkten, wer- den wir im dritten Syſtem zeigen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/220>, abgerufen am 24.11.2024.