Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
So verdient denn die alte Interpretation für ihre Zeit in der That dasselbe Prädicat, das man später dem Prätor beilegte, das einer viva vox juris civilis, eines lebendigen Organs des Rechts, nicht eines bloßen Sprachrohrs desselben. Dem Namen nach eine bloße Erklärung, waren ihre Auslegungen in der That eine wahre Umgestaltung und Weiterbildung des Gesetzes im Geist der Zeit, eine wahre Production. So faßten auch die Römer, wenigstens in späterer Zeit, die Sache auf, denn sie bezeichneten die älteren Juristen als veteres, qui tunc jura condiderunt,637) und sprachen von einem eignen Juristenrecht (jus civile im en- gern Sinn). 638) So sehr man aber einerseits den materiell- productiven Charakter dieser alten Doctrin betonen darf, so we- sentlich gehört zu ihrer Charakteristik auch das andere von mir hervorgehobene Moment, der formelle Anschluß derselben an die Gesetzgebung, und auch dies wird von den Römern selbst bemerkt. 639) Es ist, als ob die Jurisprudenz sich damals noch nicht, wie in späterer Zeit, getraut hätte, den schöpferischen Be- ruf, den sie der Sache nach einmal hat und nirgends mehr aus- übte, als in Rom, geradezu und offen in Anspruch zu nehmen; daher stets das Bestreben nach einer Deckung durch das Gesetz. Wäre uns eine genauere Einsicht in ihre Entwicklungs- geschichte verstattet, wir würden gewiß noch für manche von ihren Sätzen die Fäden finden, mit denen sie dieselben, wenn auch noch so lose und äußerlich mit dem Gesetz verknüpft hatte.
Ich habe eine Frage bis auf den Schluß verspart, weil sie, obgleich sie dem Zusammenhang nach an einen frühern Ort gehört, mir doch erst hier ihre Erledigung finden zu können scheint. Es ist nämlich die: wie betrachtete die alte Interpreta- tion die Umgehung der Gesetze? Dem Princip der Wortinter-
637)Gaj. IV, 30.
638)L. 2 §. 5 de orig. jur. (1. 2).
639) So von Pomponius in der Stelle der vorigen Note, worin das Juristenrecht als Resultat der interpretatio bezeichnet wird. S. auch S. 73.
Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
So verdient denn die alte Interpretation für ihre Zeit in der That daſſelbe Prädicat, das man ſpäter dem Prätor beilegte, das einer viva vox juris civilis, eines lebendigen Organs des Rechts, nicht eines bloßen Sprachrohrs deſſelben. Dem Namen nach eine bloße Erklärung, waren ihre Auslegungen in der That eine wahre Umgeſtaltung und Weiterbildung des Geſetzes im Geiſt der Zeit, eine wahre Production. So faßten auch die Römer, wenigſtens in ſpäterer Zeit, die Sache auf, denn ſie bezeichneten die älteren Juriſten als veteres, qui tunc jura condiderunt,637) und ſprachen von einem eignen Juriſtenrecht (jus civile im en- gern Sinn). 638) So ſehr man aber einerſeits den materiell- productiven Charakter dieſer alten Doctrin betonen darf, ſo we- ſentlich gehört zu ihrer Charakteriſtik auch das andere von mir hervorgehobene Moment, der formelle Anſchluß derſelben an die Geſetzgebung, und auch dies wird von den Römern ſelbſt bemerkt. 639) Es iſt, als ob die Jurisprudenz ſich damals noch nicht, wie in ſpäterer Zeit, getraut hätte, den ſchöpferiſchen Be- ruf, den ſie der Sache nach einmal hat und nirgends mehr aus- übte, als in Rom, geradezu und offen in Anſpruch zu nehmen; daher ſtets das Beſtreben nach einer Deckung durch das Geſetz. Wäre uns eine genauere Einſicht in ihre Entwicklungs- geſchichte verſtattet, wir würden gewiß noch für manche von ihren Sätzen die Fäden finden, mit denen ſie dieſelben, wenn auch noch ſo loſe und äußerlich mit dem Geſetz verknüpft hatte.
Ich habe eine Frage bis auf den Schluß verſpart, weil ſie, obgleich ſie dem Zuſammenhang nach an einen frühern Ort gehört, mir doch erſt hier ihre Erledigung finden zu können ſcheint. Es iſt nämlich die: wie betrachtete die alte Interpreta- tion die Umgehung der Geſetze? Dem Princip der Wortinter-
637)Gaj. IV, 30.
638)L. 2 §. 5 de orig. jur. (1. 2).
639) So von Pomponius in der Stelle der vorigen Note, worin das Juriſtenrecht als Reſultat der interpretatio bezeichnet wird. S. auch S. 73.
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Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
So verdient denn die alte Interpretation für ihre Zeit in der
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nicht eines bloßen Sprachrohrs deſſelben. Dem Namen nach eine
bloße Erklärung, waren ihre Auslegungen in der That eine
wahre Umgeſtaltung und Weiterbildung des Geſetzes im Geiſt
der Zeit, eine wahre Production. So faßten auch die Römer,
wenigſtens in ſpäterer Zeit, die Sache auf, denn ſie bezeichneten
die älteren Juriſten als veteres, qui tunc jura condiderunt, 637)
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ſentlich gehört zu ihrer Charakteriſtik auch das andere von mir
hervorgehobene Moment, der formelle Anſchluß derſelben an
die Geſetzgebung, und auch dies wird von den Römern ſelbſt
bemerkt. 639) Es iſt, als ob die Jurisprudenz ſich damals noch
nicht, wie in ſpäterer Zeit, getraut hätte, den ſchöpferiſchen Be-
ruf, den ſie der Sache nach einmal hat und nirgends mehr aus-
übte, als in Rom, geradezu und offen in Anſpruch zu nehmen;
daher ſtets das Beſtreben nach einer Deckung durch das
Geſetz. Wäre uns eine genauere Einſicht in ihre Entwicklungs-
geſchichte verſtattet, wir würden gewiß noch für manche von
ihren Sätzen die Fäden finden, mit denen ſie dieſelben, wenn
auch noch ſo loſe und äußerlich mit dem Geſetz verknüpft hatte.
Ich habe eine Frage bis auf den Schluß verſpart, weil
ſie, obgleich ſie dem Zuſammenhang nach an einen frühern Ort
gehört, mir doch erſt hier ihre Erledigung finden zu können
ſcheint. Es iſt nämlich die: wie betrachtete die alte Interpreta-
tion die Umgehung der Geſetze? Dem Princip der Wortinter-
637) Gaj. IV, 30.
638) L. 2 §. 5 de orig. jur. (1. 2).
639) So von Pomponius in der Stelle der vorigen Note, worin das
Juriſtenrecht als Reſultat der interpretatio bezeichnet wird. S. auch S. 73.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/199>, abgerufen am 16.02.2025.
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