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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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3. Die juristische Construction. §. 41.

Das praktische Leben kann dieser Ergänzung des positiven
Rechts durch die Jurisprudenz gar nicht entbehren und letztere
sich ihr eben darum, auch wenn sie möchte, gar nicht entziehen.
Jede Jurisprudenz producirt, 530) selbst wenn sie sich dessen nicht
bewußt ist und wohl gar sich in der Theorie das Recht dazu
abspricht, wie dies ja noch heutzutage von Manchen geschieht.
Es war ein ganz richtiges Gefühl, das einen Juristen des vori-
gen Jahrhunderts, den Germanisten Runde, bestimmte, die Na-
tur der Sache
als Rechtsquelle aufzustellen; es giebt kaum
einen Ausdruck, der der von mir im Bisherigen entwickelten
naturhistorischen Anschauung sowohl der Sache wie dem Namen
nach so nahe käme.

Wie sehr nun diese juristische Production durch die natur-
historische Auffassungsweise bedingt ist, bedarf schwerlich einer
Erläuterung. Vom Standpunkt der niedern Jurisprudenz ist sie
schlechterdings nicht zu begründen, vom Standpunkt der höhern
aus hingegen ergibt sie sich als nothwendige Consequenz. Ha-
ben wir einmal die Vorstellung der Rechtskörper adoptirt, die
Idee des individuellen Seins und Lebens auf den gegebenen
positiven Stoff angewandt, so müssen wir dieser Idee auch da
treu bleiben, wo der positive Stoff uns im Stich läßt d. h. das
Fehlende in irgend einer Weise ergänzen. Das Material aber
zu dieser Ergänzung gewährt uns theils der einzelne Körper
selbst, seine Natur und innere Dialektik, theils die allgemeine
Theorie der juristischen Körper.


So öffnet sich denn der Wissenschaft im System ein unab-
sehbares Gebiet der Thätigkeit, ein unerschöpfliches Feld des
Forschens und Entdeckens, und eine Quelle des reichsten Genus-
ses. Nicht die engen Schranken des positiven Gesetzes bezeichnen

530) Darum bezeichneten die spätern römischen Juristen ihre Vorgänger
aus der Zeit der Republik ganz zutreffend als veteres, qui tunc jura con-
diderunt
.
3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.

Das praktiſche Leben kann dieſer Ergänzung des poſitiven
Rechts durch die Jurisprudenz gar nicht entbehren und letztere
ſich ihr eben darum, auch wenn ſie möchte, gar nicht entziehen.
Jede Jurisprudenz producirt, 530) ſelbſt wenn ſie ſich deſſen nicht
bewußt iſt und wohl gar ſich in der Theorie das Recht dazu
abſpricht, wie dies ja noch heutzutage von Manchen geſchieht.
Es war ein ganz richtiges Gefühl, das einen Juriſten des vori-
gen Jahrhunderts, den Germaniſten Runde, beſtimmte, die Na-
tur der Sache
als Rechtsquelle aufzuſtellen; es giebt kaum
einen Ausdruck, der der von mir im Bisherigen entwickelten
naturhiſtoriſchen Anſchauung ſowohl der Sache wie dem Namen
nach ſo nahe käme.

Wie ſehr nun dieſe juriſtiſche Production durch die natur-
hiſtoriſche Auffaſſungsweiſe bedingt iſt, bedarf ſchwerlich einer
Erläuterung. Vom Standpunkt der niedern Jurisprudenz iſt ſie
ſchlechterdings nicht zu begründen, vom Standpunkt der höhern
aus hingegen ergibt ſie ſich als nothwendige Conſequenz. Ha-
ben wir einmal die Vorſtellung der Rechtskörper adoptirt, die
Idee des individuellen Seins und Lebens auf den gegebenen
poſitiven Stoff angewandt, ſo müſſen wir dieſer Idee auch da
treu bleiben, wo der poſitive Stoff uns im Stich läßt d. h. das
Fehlende in irgend einer Weiſe ergänzen. Das Material aber
zu dieſer Ergänzung gewährt uns theils der einzelne Körper
ſelbſt, ſeine Natur und innere Dialektik, theils die allgemeine
Theorie der juriſtiſchen Körper.


So öffnet ſich denn der Wiſſenſchaft im Syſtem ein unab-
ſehbares Gebiet der Thätigkeit, ein unerſchöpfliches Feld des
Forſchens und Entdeckens, und eine Quelle des reichſten Genuſ-
ſes. Nicht die engen Schranken des poſitiven Geſetzes bezeichnen

530) Darum bezeichneten die ſpätern römiſchen Juriſten ihre Vorgänger
aus der Zeit der Republik ganz zutreffend als veteres, qui tunc jura con-
diderunt
.
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[413/0119] 3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41. Das praktiſche Leben kann dieſer Ergänzung des poſitiven Rechts durch die Jurisprudenz gar nicht entbehren und letztere ſich ihr eben darum, auch wenn ſie möchte, gar nicht entziehen. Jede Jurisprudenz producirt, 530) ſelbſt wenn ſie ſich deſſen nicht bewußt iſt und wohl gar ſich in der Theorie das Recht dazu abſpricht, wie dies ja noch heutzutage von Manchen geſchieht. Es war ein ganz richtiges Gefühl, das einen Juriſten des vori- gen Jahrhunderts, den Germaniſten Runde, beſtimmte, die Na- tur der Sache als Rechtsquelle aufzuſtellen; es giebt kaum einen Ausdruck, der der von mir im Bisherigen entwickelten naturhiſtoriſchen Anſchauung ſowohl der Sache wie dem Namen nach ſo nahe käme. Wie ſehr nun dieſe juriſtiſche Production durch die natur- hiſtoriſche Auffaſſungsweiſe bedingt iſt, bedarf ſchwerlich einer Erläuterung. Vom Standpunkt der niedern Jurisprudenz iſt ſie ſchlechterdings nicht zu begründen, vom Standpunkt der höhern aus hingegen ergibt ſie ſich als nothwendige Conſequenz. Ha- ben wir einmal die Vorſtellung der Rechtskörper adoptirt, die Idee des individuellen Seins und Lebens auf den gegebenen poſitiven Stoff angewandt, ſo müſſen wir dieſer Idee auch da treu bleiben, wo der poſitive Stoff uns im Stich läßt d. h. das Fehlende in irgend einer Weiſe ergänzen. Das Material aber zu dieſer Ergänzung gewährt uns theils der einzelne Körper ſelbſt, ſeine Natur und innere Dialektik, theils die allgemeine Theorie der juriſtiſchen Körper. So öffnet ſich denn der Wiſſenſchaft im Syſtem ein unab- ſehbares Gebiet der Thätigkeit, ein unerſchöpfliches Feld des Forſchens und Entdeckens, und eine Quelle des reichſten Genuſ- ſes. Nicht die engen Schranken des poſitiven Geſetzes bezeichnen 530) Darum bezeichneten die ſpätern römiſchen Juriſten ihre Vorgänger aus der Zeit der Republik ganz zutreffend als veteres, qui tunc jura con- diderunt.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/119>, abgerufen am 22.11.2024.