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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
System. Denn im System hat ja der Stoff plastische Formen
angenommen, er hat sich getheilt und zusammengethan zu ein-
zelnen individuell bestimmten Körpern. Jeder solcher Körper ist
der Träger einer Masse von Rechtssätzen oder richtiger nicht ein
bloßer Träger, ein mit ihnen behangenes Gerippe, sondern er
ist sie selbst, sie sind sein Fleisch und Blut geworden. In ihm
hat die Masse individuellen Ausdruck und die Möglichkeit eines
Totaleindrucks gewonnen. Jeder dieser Körper hat für uns
seine bestimmte Physiognomie und Individualität, und wer län-
gern Verkehr mit ihnen gepflogen, dem werden sie wie alte Be-
kannte -- er kennt sie, wo und wie er sie trifft (Diagnose), und
er weiß, was sie können und nicht können, 527) ohne daß er
nöthig hätte, viel darüber zu reflectiren und sich der Gründe
bewußt zu werden.

Wie sehr nun durch diese Möglichkeit, das Recht mit der
Anschauung zu erfassen, unsere ganze Beschäftigung mit dem-
selben gewinnt, gewinnt an Raschheit, Sicherheit, Leich-
tigkeit
-- das werde ich dem eignen Nachdenken des Lesers
überlassen dürfen.

Zweitens: das System ist die bequemste, weil kür-
zeste, concentrirteste
Form des Stoffs -- eine Behauptung,
die nach den Ausführungen in diesem und den vorhergehenden
Paragraphen keiner weiteren Erörterung bedarf. 528)

Drittens: das System ist die ergiebigste, durchsich-
tigste
Form des Stoffs. In dieser Form wird die ganze Fülle
seines Inhalts zu Tage gefördert, alles, was in ihm steckt, her-
vorgetrieben: die Beziehungen der entferntesten Punkte, die fein-
sten Unterschiede und Aehnlichkeiten, die stillschweigenden Vor-
aussetzungen, die dem Gesetz zu Grunde liegen, und die gerade

527) Man vergleiche z. B. die Stellen in der Note 507, wo die römi-
schen Juristen in dieser Weise mit der "natura," "potestas" u. s. w. des
Körpers operiren.
528) S. auch Bd. 1 S. 27, 28.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Syſtem. Denn im Syſtem hat ja der Stoff plaſtiſche Formen
angenommen, er hat ſich getheilt und zuſammengethan zu ein-
zelnen individuell beſtimmten Körpern. Jeder ſolcher Körper iſt
der Träger einer Maſſe von Rechtsſätzen oder richtiger nicht ein
bloßer Träger, ein mit ihnen behangenes Gerippe, ſondern er
iſt ſie ſelbſt, ſie ſind ſein Fleiſch und Blut geworden. In ihm
hat die Maſſe individuellen Ausdruck und die Möglichkeit eines
Totaleindrucks gewonnen. Jeder dieſer Körper hat für uns
ſeine beſtimmte Phyſiognomie und Individualität, und wer län-
gern Verkehr mit ihnen gepflogen, dem werden ſie wie alte Be-
kannte — er kennt ſie, wo und wie er ſie trifft (Diagnoſe), und
er weiß, was ſie können und nicht können, 527) ohne daß er
nöthig hätte, viel darüber zu reflectiren und ſich der Gründe
bewußt zu werden.

Wie ſehr nun durch dieſe Möglichkeit, das Recht mit der
Anſchauung zu erfaſſen, unſere ganze Beſchäftigung mit dem-
ſelben gewinnt, gewinnt an Raſchheit, Sicherheit, Leich-
tigkeit
— das werde ich dem eignen Nachdenken des Leſers
überlaſſen dürfen.

Zweitens: das Syſtem iſt die bequemſte, weil kür-
zeſte, concentrirteſte
Form des Stoffs — eine Behauptung,
die nach den Ausführungen in dieſem und den vorhergehenden
Paragraphen keiner weiteren Erörterung bedarf. 528)

Drittens: das Syſtem iſt die ergiebigſte, durchſich-
tigſte
Form des Stoffs. In dieſer Form wird die ganze Fülle
ſeines Inhalts zu Tage gefördert, alles, was in ihm ſteckt, her-
vorgetrieben: die Beziehungen der entfernteſten Punkte, die fein-
ſten Unterſchiede und Aehnlichkeiten, die ſtillſchweigenden Vor-
ausſetzungen, die dem Geſetz zu Grunde liegen, und die gerade

527) Man vergleiche z. B. die Stellen in der Note 507, wo die römi-
ſchen Juriſten in dieſer Weiſe mit der „natura,“ „potestas“ u. ſ. w. des
Körpers operiren.
528) S. auch Bd. 1 S. 27, 28.
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[410/0116] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. Syſtem. Denn im Syſtem hat ja der Stoff plaſtiſche Formen angenommen, er hat ſich getheilt und zuſammengethan zu ein- zelnen individuell beſtimmten Körpern. Jeder ſolcher Körper iſt der Träger einer Maſſe von Rechtsſätzen oder richtiger nicht ein bloßer Träger, ein mit ihnen behangenes Gerippe, ſondern er iſt ſie ſelbſt, ſie ſind ſein Fleiſch und Blut geworden. In ihm hat die Maſſe individuellen Ausdruck und die Möglichkeit eines Totaleindrucks gewonnen. Jeder dieſer Körper hat für uns ſeine beſtimmte Phyſiognomie und Individualität, und wer län- gern Verkehr mit ihnen gepflogen, dem werden ſie wie alte Be- kannte — er kennt ſie, wo und wie er ſie trifft (Diagnoſe), und er weiß, was ſie können und nicht können, 527) ohne daß er nöthig hätte, viel darüber zu reflectiren und ſich der Gründe bewußt zu werden. Wie ſehr nun durch dieſe Möglichkeit, das Recht mit der Anſchauung zu erfaſſen, unſere ganze Beſchäftigung mit dem- ſelben gewinnt, gewinnt an Raſchheit, Sicherheit, Leich- tigkeit — das werde ich dem eignen Nachdenken des Leſers überlaſſen dürfen. Zweitens: das Syſtem iſt die bequemſte, weil kür- zeſte, concentrirteſte Form des Stoffs — eine Behauptung, die nach den Ausführungen in dieſem und den vorhergehenden Paragraphen keiner weiteren Erörterung bedarf. 528) Drittens: das Syſtem iſt die ergiebigſte, durchſich- tigſte Form des Stoffs. In dieſer Form wird die ganze Fülle ſeines Inhalts zu Tage gefördert, alles, was in ihm ſteckt, her- vorgetrieben: die Beziehungen der entfernteſten Punkte, die fein- ſten Unterſchiede und Aehnlichkeiten, die ſtillſchweigenden Vor- ausſetzungen, die dem Geſetz zu Grunde liegen, und die gerade 527) Man vergleiche z. B. die Stellen in der Note 507, wo die römi- ſchen Juriſten in dieſer Weiſe mit der „natura,“ „potestas“ u. ſ. w. des Körpers operiren. 528) S. auch Bd. 1 S. 27, 28.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/116>, abgerufen am 24.11.2024.