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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
Rechtsverhältnissen zeigt sich auch darin, daß die rückwirkende
Anwendung der Gesetze gewöhnlich durch einen ausdrücklichen
Zusatz75) ausgeschlossen war.

Dem bisherigen nach, und ich glaube auch hinzufügen zu
dürfen, nach dem Totaleindruck des ganzen ältern Rechts wird
man letzterem unmöglich den Grundsatz der Unverletzlichkeit der
erworbenen Rechte absprechen können. Diese erste Anforderung
des natürlichen Rechtsgefühls konnte einem Volke, bei dem das
Rechtsgefühl so sehr seinen Halt und Inhalt in sich selbst fand,
so stark pulsirte, wie bei dem römischen, unmöglich entgehen.
Den Römern war die moderne Abstraction, daß das Einzel-
Recht seine ganze Existenz dem objektiven Recht verdanke, völlig
fremd, und in einer Aufhebung der jura quaesita durch ein Ge-
setz konnten sie nicht einen völlig berechtigten Vorgang, sondern
nur ein von Seiten des Volks dem Einzelnen zugefügtes Unrecht
erblicken.

Neben diesem bisher betrachteten Grundsatz kömmt nun für
die Unabhängigkeit der Verwirklichung des Rechts ein anderer
Punkt in Betracht, der für diese Frage überall von entscheiden-
der Bedeutung ist -- die Garantie einer unabhängigen, gleich-
mäßigen und unbestechlichen Civil-Justiz.76) Die äußeren Ein-
richtungen der Gerichtsverfassung, die Formen des Verfahrens
und das materielle Recht vermögen durch sich allein diese Ga-
rantie nicht zu verleihen, d. h. die moralische Integrität des
Richterstandes nicht entbehrlich zu machen, aber wie sie selbst bei
der moralischen Verderbtheit des Volks und folglich auch der
Richter immer doch einen gewissen Schutz gewähren, so sind sie
auch für moralisch unverdorbene Zeiten von hoher Wichtigkeit.

75) Z. B. Ne quis post hanc legem rogatam (L. pr. ad leg. Falc.
(35. 2), ne quis posthac (L. 12 ad leg. Jul. de adult. (48. 5).
76) Die eigenthümliche Beschaffenheit der römischen Kriminaljustiz ist
bereits früher (§. 25) entwickelt, auf letztere braucht daher an dieser Stelle
keine Rücksicht mehr genommen zu werden.

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
Rechtsverhältniſſen zeigt ſich auch darin, daß die rückwirkende
Anwendung der Geſetze gewöhnlich durch einen ausdrücklichen
Zuſatz75) ausgeſchloſſen war.

Dem bisherigen nach, und ich glaube auch hinzufügen zu
dürfen, nach dem Totaleindruck des ganzen ältern Rechts wird
man letzterem unmöglich den Grundſatz der Unverletzlichkeit der
erworbenen Rechte abſprechen können. Dieſe erſte Anforderung
des natürlichen Rechtsgefühls konnte einem Volke, bei dem das
Rechtsgefühl ſo ſehr ſeinen Halt und Inhalt in ſich ſelbſt fand,
ſo ſtark pulſirte, wie bei dem römiſchen, unmöglich entgehen.
Den Römern war die moderne Abſtraction, daß das Einzel-
Recht ſeine ganze Exiſtenz dem objektiven Recht verdanke, völlig
fremd, und in einer Aufhebung der jura quaesita durch ein Ge-
ſetz konnten ſie nicht einen völlig berechtigten Vorgang, ſondern
nur ein von Seiten des Volks dem Einzelnen zugefügtes Unrecht
erblicken.

Neben dieſem bisher betrachteten Grundſatz kömmt nun für
die Unabhängigkeit der Verwirklichung des Rechts ein anderer
Punkt in Betracht, der für dieſe Frage überall von entſcheiden-
der Bedeutung iſt — die Garantie einer unabhängigen, gleich-
mäßigen und unbeſtechlichen Civil-Juſtiz.76) Die äußeren Ein-
richtungen der Gerichtsverfaſſung, die Formen des Verfahrens
und das materielle Recht vermögen durch ſich allein dieſe Ga-
rantie nicht zu verleihen, d. h. die moraliſche Integrität des
Richterſtandes nicht entbehrlich zu machen, aber wie ſie ſelbſt bei
der moraliſchen Verderbtheit des Volks und folglich auch der
Richter immer doch einen gewiſſen Schutz gewähren, ſo ſind ſie
auch für moraliſch unverdorbene Zeiten von hoher Wichtigkeit.

75) Z. B. Ne quis post hanc legem rogatam (L. pr. ad leg. Falc.
(35. 2), ne quis posthac (L. 12 ad leg. Jul. de adult. (48. 5).
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[79/0093] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28. Rechtsverhältniſſen zeigt ſich auch darin, daß die rückwirkende Anwendung der Geſetze gewöhnlich durch einen ausdrücklichen Zuſatz 75) ausgeſchloſſen war. Dem bisherigen nach, und ich glaube auch hinzufügen zu dürfen, nach dem Totaleindruck des ganzen ältern Rechts wird man letzterem unmöglich den Grundſatz der Unverletzlichkeit der erworbenen Rechte abſprechen können. Dieſe erſte Anforderung des natürlichen Rechtsgefühls konnte einem Volke, bei dem das Rechtsgefühl ſo ſehr ſeinen Halt und Inhalt in ſich ſelbſt fand, ſo ſtark pulſirte, wie bei dem römiſchen, unmöglich entgehen. Den Römern war die moderne Abſtraction, daß das Einzel- Recht ſeine ganze Exiſtenz dem objektiven Recht verdanke, völlig fremd, und in einer Aufhebung der jura quaesita durch ein Ge- ſetz konnten ſie nicht einen völlig berechtigten Vorgang, ſondern nur ein von Seiten des Volks dem Einzelnen zugefügtes Unrecht erblicken. Neben dieſem bisher betrachteten Grundſatz kömmt nun für die Unabhängigkeit der Verwirklichung des Rechts ein anderer Punkt in Betracht, der für dieſe Frage überall von entſcheiden- der Bedeutung iſt — die Garantie einer unabhängigen, gleich- mäßigen und unbeſtechlichen Civil-Juſtiz. 76) Die äußeren Ein- richtungen der Gerichtsverfaſſung, die Formen des Verfahrens und das materielle Recht vermögen durch ſich allein dieſe Ga- rantie nicht zu verleihen, d. h. die moraliſche Integrität des Richterſtandes nicht entbehrlich zu machen, aber wie ſie ſelbſt bei der moraliſchen Verderbtheit des Volks und folglich auch der Richter immer doch einen gewiſſen Schutz gewähren, ſo ſind ſie auch für moraliſch unverdorbene Zeiten von hoher Wichtigkeit. 75) Z. B. Ne quis post hanc legem rogatam (L. pr. ad leg. Falc. (35. 2), ne quis posthac (L. 12 ad leg. Jul. de adult. (48. 5). 76) Die eigenthümliche Beſchaffenheit der römiſchen Kriminaljuſtiz iſt bereits früher (§. 25) entwickelt, auf letztere braucht daher an dieſer Stelle keine Rückſicht mehr genommen zu werden.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/93>, abgerufen am 22.11.2024.