Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.I. Der Selbständigkeitstrieb. 3. Selbsterhaltungstrieb des Rechts. §. 27. diese Weise gebildet haben, dessen Verbindung mit seinem ge-setzlichen Anknüpfungspunkt uns darum noch entgeht, weil diese Verbindung eine etwas gezwungene war.62) In dem jus civile fand also der rechtliche Bildungstrieb der Zeit bis zu einem ge- wissen Grade seine Befriedigung, wie später im prätorischen Edikt; über diesen Grad hinaus half die Gesetzgebung nach. Aber gewiß bedurfte es dieses Mittels nur in seltenen Fällen, wie denn von den Rechtssätzen, deren Bildung dem gegenwärti- gen System angehört, nur wenige auf Gesetze zurückgeführt werden. Der bei weitem größte Theil derselben hat sich auf dem Wege der interpretatio gebildet, ist also die Frucht eines lang- samen, besonnenen Entwicklungsprozesses und wird in ähnlicher Weise wie das prätorische Edikt in seiner schließlichen Gestalt das Resultat einer unausgesetzten Sichtung und Verbesserung im Einzelnen gewesen sein. Auch auf dem Gebiete des jus civile mag wie auf dem des prätorischen Rechts mancher Gedanke auf- getaucht sein, der später spurlos verschwunden ist, mag die spä- tere Zeit auch wohl von den traditionell gewordenen Interpre- tationen und selbständigen Regeln der frühern Zeit abgegangen sein.63) Ich halte es für um so nöthiger dies hervorzuheben, als man von dem Eindruck der Starrheit, welchen das ältere Recht macht, leicht auf einen demselben entsprechenden Charakter der ältern Jurisprudenz schließen könnte. Gerade umgekehrt er- scheint sie mir, wie bereits bemerkt, als Repräsentantin der Bewegung, als Vermittlerin des Fortschrittes, und ich glaube wöhnlich schlechthin heißen, den Zusatz, der auch vorkömmt: qui tunc jura condiderunt, constituerunt. 62) Es wäre ein verdienstliches Unternehmen, mit dieser Rücksicht einmal die Rechtssätze des ältern Rechts durchzugehn. 63) So z. B. bei der usucapio pro herede (Gaj. IV. §. 54: .. olim
ipsae hereditates usucapi credebantur ... postea creditum est, ipsas hereditates usucapi non posse) hinsichtlich der Annahme eines furtum an unbeweglichen Sachen, hinsichtlich der Auslegung des Verbots der Usucapion von res furtivae. I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27. dieſe Weiſe gebildet haben, deſſen Verbindung mit ſeinem ge-ſetzlichen Anknüpfungspunkt uns darum noch entgeht, weil dieſe Verbindung eine etwas gezwungene war.62) In dem jus civile fand alſo der rechtliche Bildungstrieb der Zeit bis zu einem ge- wiſſen Grade ſeine Befriedigung, wie ſpäter im prätoriſchen Edikt; über dieſen Grad hinaus half die Geſetzgebung nach. Aber gewiß bedurfte es dieſes Mittels nur in ſeltenen Fällen, wie denn von den Rechtsſätzen, deren Bildung dem gegenwärti- gen Syſtem angehört, nur wenige auf Geſetze zurückgeführt werden. Der bei weitem größte Theil derſelben hat ſich auf dem Wege der interpretatio gebildet, iſt alſo die Frucht eines lang- ſamen, beſonnenen Entwicklungsprozeſſes und wird in ähnlicher Weiſe wie das prätoriſche Edikt in ſeiner ſchließlichen Geſtalt das Reſultat einer unausgeſetzten Sichtung und Verbeſſerung im Einzelnen geweſen ſein. Auch auf dem Gebiete des jus civile mag wie auf dem des prätoriſchen Rechts mancher Gedanke auf- getaucht ſein, der ſpäter ſpurlos verſchwunden iſt, mag die ſpä- tere Zeit auch wohl von den traditionell gewordenen Interpre- tationen und ſelbſtändigen Regeln der frühern Zeit abgegangen ſein.63) Ich halte es für um ſo nöthiger dies hervorzuheben, als man von dem Eindruck der Starrheit, welchen das ältere Recht macht, leicht auf einen demſelben entſprechenden Charakter der ältern Jurisprudenz ſchließen könnte. Gerade umgekehrt er- ſcheint ſie mir, wie bereits bemerkt, als Repräſentantin der Bewegung, als Vermittlerin des Fortſchrittes, und ich glaube wöhnlich ſchlechthin heißen, den Zuſatz, der auch vorkömmt: qui tunc jura condiderunt, constituerunt. 62) Es wäre ein verdienſtliches Unternehmen, mit dieſer Rückſicht einmal die Rechtsſätze des ältern Rechts durchzugehn. 63) So z. B. bei der usucapio pro herede (Gaj. IV. §. 54: .. olim
ipsae hereditates usucapi credebantur … postea creditum est, ipsas hereditates usucapi non posse) hinſichtlich der Annahme eines furtum an unbeweglichen Sachen, hinſichtlich der Auslegung des Verbots der Uſucapion von res furtivae. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0085" n="71"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.</fw><lb/> dieſe Weiſe gebildet haben, deſſen Verbindung mit ſeinem ge-<lb/> ſetzlichen Anknüpfungspunkt uns darum noch entgeht, weil dieſe<lb/> Verbindung eine etwas gezwungene war.<note place="foot" n="62)">Es wäre ein verdienſtliches Unternehmen, mit dieſer Rückſicht einmal<lb/> die Rechtsſätze des ältern Rechts durchzugehn.</note> In dem <hi rendition="#aq">jus civile</hi><lb/> fand alſo der rechtliche Bildungstrieb der Zeit bis zu einem ge-<lb/> wiſſen Grade ſeine Befriedigung, wie ſpäter im prätoriſchen<lb/> Edikt; über dieſen Grad hinaus half die Geſetzgebung nach.<lb/> Aber gewiß bedurfte es dieſes Mittels nur in ſeltenen Fällen,<lb/> wie denn von den Rechtsſätzen, deren Bildung dem gegenwärti-<lb/> gen Syſtem angehört, nur wenige auf Geſetze zurückgeführt<lb/> werden. Der bei weitem größte Theil derſelben hat ſich auf dem<lb/> Wege der <hi rendition="#aq">interpretatio</hi> gebildet, iſt alſo die Frucht eines lang-<lb/> ſamen, beſonnenen Entwicklungsprozeſſes und wird in ähnlicher<lb/> Weiſe wie das prätoriſche Edikt in ſeiner ſchließlichen Geſtalt<lb/> das Reſultat einer unausgeſetzten Sichtung und Verbeſſerung<lb/> im Einzelnen geweſen ſein. Auch auf dem Gebiete des <hi rendition="#aq">jus civile</hi><lb/> mag wie auf dem des prätoriſchen Rechts mancher Gedanke auf-<lb/> getaucht ſein, der ſpäter ſpurlos verſchwunden iſt, mag die ſpä-<lb/> tere Zeit auch wohl von den traditionell gewordenen Interpre-<lb/> tationen und ſelbſtändigen Regeln der frühern Zeit abgegangen<lb/> ſein.<note place="foot" n="63)">So z. B. bei der <hi rendition="#aq">usucapio pro herede (Gaj. IV. §. 54: .. <hi rendition="#g">olim</hi><lb/> ipsae hereditates usucapi <hi rendition="#g">credebantur</hi> … postea creditum est, ipsas<lb/> hereditates usucapi non posse)</hi> hinſichtlich der Annahme eines <hi rendition="#aq">furtum</hi> an<lb/> unbeweglichen Sachen, hinſichtlich der Auslegung des Verbots der Uſucapion<lb/> von <hi rendition="#aq">res furtivae</hi>.</note> Ich halte es für um ſo nöthiger dies hervorzuheben, als<lb/> man von dem Eindruck der Starrheit, welchen das ältere Recht<lb/> macht, leicht auf einen demſelben entſprechenden Charakter der<lb/> ältern Jurisprudenz ſchließen könnte. Gerade umgekehrt er-<lb/> ſcheint ſie mir, wie bereits bemerkt, als Repräſentantin der<lb/> Bewegung, als Vermittlerin des Fortſchrittes, und ich glaube<lb/><note xml:id="seg2pn_7_2" prev="#seg2pn_7_1" place="foot" n="61)">wöhnlich ſchlechthin heißen, den Zuſatz, der auch vorkömmt: <hi rendition="#aq">qui tunc jura<lb/> condiderunt, constituerunt</hi>.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0085]
I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
dieſe Weiſe gebildet haben, deſſen Verbindung mit ſeinem ge-
ſetzlichen Anknüpfungspunkt uns darum noch entgeht, weil dieſe
Verbindung eine etwas gezwungene war. 62) In dem jus civile
fand alſo der rechtliche Bildungstrieb der Zeit bis zu einem ge-
wiſſen Grade ſeine Befriedigung, wie ſpäter im prätoriſchen
Edikt; über dieſen Grad hinaus half die Geſetzgebung nach.
Aber gewiß bedurfte es dieſes Mittels nur in ſeltenen Fällen,
wie denn von den Rechtsſätzen, deren Bildung dem gegenwärti-
gen Syſtem angehört, nur wenige auf Geſetze zurückgeführt
werden. Der bei weitem größte Theil derſelben hat ſich auf dem
Wege der interpretatio gebildet, iſt alſo die Frucht eines lang-
ſamen, beſonnenen Entwicklungsprozeſſes und wird in ähnlicher
Weiſe wie das prätoriſche Edikt in ſeiner ſchließlichen Geſtalt
das Reſultat einer unausgeſetzten Sichtung und Verbeſſerung
im Einzelnen geweſen ſein. Auch auf dem Gebiete des jus civile
mag wie auf dem des prätoriſchen Rechts mancher Gedanke auf-
getaucht ſein, der ſpäter ſpurlos verſchwunden iſt, mag die ſpä-
tere Zeit auch wohl von den traditionell gewordenen Interpre-
tationen und ſelbſtändigen Regeln der frühern Zeit abgegangen
ſein. 63) Ich halte es für um ſo nöthiger dies hervorzuheben, als
man von dem Eindruck der Starrheit, welchen das ältere Recht
macht, leicht auf einen demſelben entſprechenden Charakter der
ältern Jurisprudenz ſchließen könnte. Gerade umgekehrt er-
ſcheint ſie mir, wie bereits bemerkt, als Repräſentantin der
Bewegung, als Vermittlerin des Fortſchrittes, und ich glaube
61)
62) Es wäre ein verdienſtliches Unternehmen, mit dieſer Rückſicht einmal
die Rechtsſätze des ältern Rechts durchzugehn.
63) So z. B. bei der usucapio pro herede (Gaj. IV. §. 54: .. olim
ipsae hereditates usucapi credebantur … postea creditum est, ipsas
hereditates usucapi non posse) hinſichtlich der Annahme eines furtum an
unbeweglichen Sachen, hinſichtlich der Auslegung des Verbots der Uſucapion
von res furtivae.
61) wöhnlich ſchlechthin heißen, den Zuſatz, der auch vorkömmt: qui tunc jura
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