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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
nissen in Widerspruch. Mit dem Gesetz hört diese Einheit auf.
Das Recht steht nicht mehr innerhalb des Lebens, wenn ich so
sagen darf, sondern außerhalb desselben, außerhalb der Bewe-
gung und richtet von außen her seine Gebote an dasselbe. Das
Gesetz erstarrt in demselben Moment, in dem es verzeichnet
wird, während das Leben in unausgesetzter Bewegung bleibt,
und doch soll letzteres sich der todten Satzung der Vergangen-
heit fügen!

Auch hinsichtlich der Art der Beurtheilung der concreten
Rechtsverhältnisse bereitet sich mit dem System des geschriebe-
nen Rechts eine Veränderung vor, die gleichfalls scheinbar eine
große Verschlechterung enthält. Das Rechtsgefühl war etwas
Ungetheiltes, Einiges, kein Theil desselben arbeitete für sich
allein; es war ein Spiegel, der die concreten Rechtsverhält-
nisse mit einem Male in ihrer ganzen Erscheinung, in allen
ihren Bezügen, nach allen Seiten hin erfaßte. Wie aber jetzt?
Der Spiegel ist in Stücken zerfallen, und aus den Splittern und
Stücken sind die schmalen Paragraphen eines Gesetzes oder
Gesetzbuches gemacht. In ihnen hat der concrete Fall sich abzu-
spiegeln, erst in diesem Paragraph von dieser Seite, dann in
jenem von jener Seite. So also vollständige Zerstücklung statt
der Einheit!

Es ist nun leicht, wie man sieht, die Kehrseiten des geschrie-
benen Rechts aufzudecken und bei Schwärmern und Urtheils-
losen eine Sehnsucht nach dem "Recht, das mit uns geboren,"
zu erregen. Die Wahrheit hat hier nicht so leichtes Spiel, denn
sie befindet sich von vornherein mit der Gefühlsnatur im Men-
schen in Widerspruch. Die Tendenz des Rechts nach Selbstän-
digkeit und Objektivität, als deren Ausfluß das Gesetz erscheint,
hat ja von vornherein zum Zweck, die Herrschaft des Ge-
fühls im Recht zu brechen
, und die ganze Methode, Tech-
nik, Construktion des Rechts ist darauf berechnet. Erklärlich, daß
das Gefühl, das sich dadurch in seinem innersten Wesen bedroht
fühlt, sich dagegen sträubt und daß, jemehr in einem Volke oder

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
niſſen in Widerſpruch. Mit dem Geſetz hört dieſe Einheit auf.
Das Recht ſteht nicht mehr innerhalb des Lebens, wenn ich ſo
ſagen darf, ſondern außerhalb deſſelben, außerhalb der Bewe-
gung und richtet von außen her ſeine Gebote an daſſelbe. Das
Geſetz erſtarrt in demſelben Moment, in dem es verzeichnet
wird, während das Leben in unausgeſetzter Bewegung bleibt,
und doch ſoll letzteres ſich der todten Satzung der Vergangen-
heit fügen!

Auch hinſichtlich der Art der Beurtheilung der concreten
Rechtsverhältniſſe bereitet ſich mit dem Syſtem des geſchriebe-
nen Rechts eine Veränderung vor, die gleichfalls ſcheinbar eine
große Verſchlechterung enthält. Das Rechtsgefühl war etwas
Ungetheiltes, Einiges, kein Theil deſſelben arbeitete für ſich
allein; es war ein Spiegel, der die concreten Rechtsverhält-
niſſe mit einem Male in ihrer ganzen Erſcheinung, in allen
ihren Bezügen, nach allen Seiten hin erfaßte. Wie aber jetzt?
Der Spiegel iſt in Stücken zerfallen, und aus den Splittern und
Stücken ſind die ſchmalen Paragraphen eines Geſetzes oder
Geſetzbuches gemacht. In ihnen hat der concrete Fall ſich abzu-
ſpiegeln, erſt in dieſem Paragraph von dieſer Seite, dann in
jenem von jener Seite. So alſo vollſtändige Zerſtücklung ſtatt
der Einheit!

Es iſt nun leicht, wie man ſieht, die Kehrſeiten des geſchrie-
benen Rechts aufzudecken und bei Schwärmern und Urtheils-
loſen eine Sehnſucht nach dem „Recht, das mit uns geboren,“
zu erregen. Die Wahrheit hat hier nicht ſo leichtes Spiel, denn
ſie befindet ſich von vornherein mit der Gefühlsnatur im Men-
ſchen in Widerſpruch. Die Tendenz des Rechts nach Selbſtän-
digkeit und Objektivität, als deren Ausfluß das Geſetz erſcheint,
hat ja von vornherein zum Zweck, die Herrſchaft des Ge-
fühls im Recht zu brechen
, und die ganze Methode, Tech-
nik, Conſtruktion des Rechts iſt darauf berechnet. Erklärlich, daß
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[32/0046] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. niſſen in Widerſpruch. Mit dem Geſetz hört dieſe Einheit auf. Das Recht ſteht nicht mehr innerhalb des Lebens, wenn ich ſo ſagen darf, ſondern außerhalb deſſelben, außerhalb der Bewe- gung und richtet von außen her ſeine Gebote an daſſelbe. Das Geſetz erſtarrt in demſelben Moment, in dem es verzeichnet wird, während das Leben in unausgeſetzter Bewegung bleibt, und doch ſoll letzteres ſich der todten Satzung der Vergangen- heit fügen! Auch hinſichtlich der Art der Beurtheilung der concreten Rechtsverhältniſſe bereitet ſich mit dem Syſtem des geſchriebe- nen Rechts eine Veränderung vor, die gleichfalls ſcheinbar eine große Verſchlechterung enthält. Das Rechtsgefühl war etwas Ungetheiltes, Einiges, kein Theil deſſelben arbeitete für ſich allein; es war ein Spiegel, der die concreten Rechtsverhält- niſſe mit einem Male in ihrer ganzen Erſcheinung, in allen ihren Bezügen, nach allen Seiten hin erfaßte. Wie aber jetzt? Der Spiegel iſt in Stücken zerfallen, und aus den Splittern und Stücken ſind die ſchmalen Paragraphen eines Geſetzes oder Geſetzbuches gemacht. In ihnen hat der concrete Fall ſich abzu- ſpiegeln, erſt in dieſem Paragraph von dieſer Seite, dann in jenem von jener Seite. So alſo vollſtändige Zerſtücklung ſtatt der Einheit! Es iſt nun leicht, wie man ſieht, die Kehrſeiten des geſchrie- benen Rechts aufzudecken und bei Schwärmern und Urtheils- loſen eine Sehnſucht nach dem „Recht, das mit uns geboren,“ zu erregen. Die Wahrheit hat hier nicht ſo leichtes Spiel, denn ſie befindet ſich von vornherein mit der Gefühlsnatur im Men- ſchen in Widerſpruch. Die Tendenz des Rechts nach Selbſtän- digkeit und Objektivität, als deren Ausfluß das Geſetz erſcheint, hat ja von vornherein zum Zweck, die Herrſchaft des Ge- fühls im Recht zu brechen, und die ganze Methode, Tech- nik, Conſtruktion des Rechts iſt darauf berechnet. Erklärlich, daß das Gefühl, das ſich dadurch in ſeinem innerſten Weſen bedroht fühlt, ſich dagegen ſträubt und daß, jemehr in einem Volke oder

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/46>, abgerufen am 24.11.2024.