Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.I. Der Selbständigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. nahmsweise auf gewohnheitsrechtlichem Wege. Der Gesetzgeberversorgt den Staat mit Gesetzen, das Recht ist also im wesent- lichen nur die Summe der erlassenen Gesetze, das Produkt legis- lativer Willkühr oder Weisheit -- dem Volk ist es etwas von vornherein Fremdes, äußerlich Angepaßtes oder Aufgedrunge- nes. So die alte Lehre. Nach der neuern Ansicht ist das Recht ursprünglich ein Produkt der unmittelbaren Thätigkeit des Volks- geistes. Das nationale Rechtsgefühl verwirklichte sich durch die That selbst und stellte sich äußerlich in der Sitte dar (Gewohn- heitsrecht). Im Lauf der Zeit tritt als zweite Rechtsquelle die Gesetzgebung hinzu, nicht gerade stets Neues schaffend, sondern oft nur das Bestehende formulirend. Neben ihr dauert aber jene erste Quelle, das nationale Rechtsgefühl mit seiner unmittelbaren Verwirklichung im Gewohnheitsrecht, als völlig gleichberechtigt fort, und nicht etwa als eine unvollkommne, bloß tolerirte Art der Rechtsbildung, sondern als die eigentlich naturgemäße, nor- male. Das Gewohnheitsrecht läßt sich recht eigentlich als das Schoßkind der neuern Jurisprudenz bezeichnen, und es scheint, als ob man sich verpflichtet gefühlt hätte, es für die Vernachläs- sigung, die es früher erfahren, durch eine blinde Liebe zu ent- schädigen. 14) Das Neue und Verdienstliche dieser Ansicht besteht darin, 14) Indem ich diese Bogen zum Druck abschicke, bringt mir die Tages-
presse eine interessante Bestätigung dieses Urtheils, nämlich ein Bruchstück aus einer Rede Stahls über die Aufhebung der Gemeinde-Ordnung vom 11. März 1850, welches nach der Augsb. Allg. Zeitung 1853 Nr. 15 S. 228 also lautet: "Die Form der Codifikation zerstört oder lockert wenigstens über- all die festen stetigen Rechtsverhältnisse, das feste stetige Rechtsbewußtsein; sie zerstört jedenfalls die Naivität des Rechtsbewußtseins; sie ist darum am schädlichsten für die ländliche Bevölkerung, denn wenn diese aus solcher Unschuld gerissen und zu der Reflexion aufgefordert wird, ob nicht ganz ent- gegengesetzte Zustände bestehen könnten, als gegenwärtig, dann ist für sie kein Halt mehr und keine Ehrfurcht vor dem Rechte." I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. nahmsweiſe auf gewohnheitsrechtlichem Wege. Der Geſetzgeberverſorgt den Staat mit Geſetzen, das Recht iſt alſo im weſent- lichen nur die Summe der erlaſſenen Geſetze, das Produkt legis- lativer Willkühr oder Weisheit — dem Volk iſt es etwas von vornherein Fremdes, äußerlich Angepaßtes oder Aufgedrunge- nes. So die alte Lehre. Nach der neuern Anſicht iſt das Recht urſprünglich ein Produkt der unmittelbaren Thätigkeit des Volks- geiſtes. Das nationale Rechtsgefühl verwirklichte ſich durch die That ſelbſt und ſtellte ſich äußerlich in der Sitte dar (Gewohn- heitsrecht). Im Lauf der Zeit tritt als zweite Rechtsquelle die Geſetzgebung hinzu, nicht gerade ſtets Neues ſchaffend, ſondern oft nur das Beſtehende formulirend. Neben ihr dauert aber jene erſte Quelle, das nationale Rechtsgefühl mit ſeiner unmittelbaren Verwirklichung im Gewohnheitsrecht, als völlig gleichberechtigt fort, und nicht etwa als eine unvollkommne, bloß tolerirte Art der Rechtsbildung, ſondern als die eigentlich naturgemäße, nor- male. Das Gewohnheitsrecht läßt ſich recht eigentlich als das Schoßkind der neuern Jurisprudenz bezeichnen, und es ſcheint, als ob man ſich verpflichtet gefühlt hätte, es für die Vernachläſ- ſigung, die es früher erfahren, durch eine blinde Liebe zu ent- ſchädigen. 14) Das Neue und Verdienſtliche dieſer Anſicht beſteht darin, 14) Indem ich dieſe Bogen zum Druck abſchicke, bringt mir die Tages-
preſſe eine intereſſante Beſtätigung dieſes Urtheils, nämlich ein Bruchſtück aus einer Rede Stahls über die Aufhebung der Gemeinde-Ordnung vom 11. März 1850, welches nach der Augsb. Allg. Zeitung 1853 Nr. 15 S. 228 alſo lautet: „Die Form der Codifikation zerſtört oder lockert wenigſtens über- all die feſten ſtetigen Rechtsverhältniſſe, das feſte ſtetige Rechtsbewußtſein; ſie zerſtört jedenfalls die Naivität des Rechtsbewußtſeins; ſie iſt darum am ſchädlichſten für die ländliche Bevölkerung, denn wenn dieſe aus ſolcher Unſchuld geriſſen und zu der Reflexion aufgefordert wird, ob nicht ganz ent- gegengeſetzte Zuſtände beſtehen könnten, als gegenwärtig, dann iſt für ſie kein Halt mehr und keine Ehrfurcht vor dem Rechte.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0039" n="25"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.</fw><lb/> nahmsweiſe auf gewohnheitsrechtlichem Wege. Der Geſetzgeber<lb/> verſorgt den Staat mit Geſetzen, das Recht iſt alſo im weſent-<lb/> lichen nur die Summe der erlaſſenen Geſetze, das Produkt legis-<lb/> lativer Willkühr oder Weisheit — dem Volk iſt es etwas von<lb/> vornherein Fremdes, äußerlich Angepaßtes oder Aufgedrunge-<lb/> nes. So die alte Lehre. Nach der neuern Anſicht iſt das Recht<lb/> urſprünglich ein Produkt der unmittelbaren Thätigkeit des Volks-<lb/> geiſtes. Das nationale Rechtsgefühl verwirklichte ſich durch die<lb/> That ſelbſt und ſtellte ſich äußerlich in der Sitte dar (Gewohn-<lb/> heitsrecht). Im Lauf der Zeit tritt als zweite Rechtsquelle die<lb/> Geſetzgebung hinzu, nicht gerade ſtets Neues ſchaffend, ſondern<lb/> oft nur das Beſtehende formulirend. Neben ihr dauert aber jene<lb/> erſte Quelle, das nationale Rechtsgefühl mit ſeiner unmittelbaren<lb/> Verwirklichung im Gewohnheitsrecht, als völlig gleichberechtigt<lb/> fort, und nicht etwa als eine unvollkommne, bloß tolerirte Art<lb/> der Rechtsbildung, ſondern als die eigentlich naturgemäße, nor-<lb/> male. Das Gewohnheitsrecht läßt ſich recht eigentlich als das<lb/> Schoßkind der neuern Jurisprudenz bezeichnen, und es ſcheint,<lb/> als ob man ſich verpflichtet gefühlt hätte, es für die Vernachläſ-<lb/> ſigung, die es früher erfahren, durch eine blinde Liebe zu ent-<lb/> ſchädigen. <note place="foot" n="14)">Indem ich dieſe Bogen zum Druck abſchicke, bringt mir die Tages-<lb/> preſſe eine intereſſante Beſtätigung dieſes Urtheils, nämlich ein Bruchſtück<lb/> aus einer Rede Stahls über die Aufhebung der Gemeinde-Ordnung vom<lb/> 11. März 1850, welches nach der Augsb. Allg. Zeitung 1853 Nr. 15 S. 228<lb/> alſo lautet: „Die Form der Codifikation zerſtört oder lockert wenigſtens über-<lb/> all die feſten ſtetigen Rechtsverhältniſſe, das feſte ſtetige Rechtsbewußtſein;<lb/> ſie zerſtört jedenfalls die Naivität des Rechtsbewußtſeins; ſie iſt darum<lb/> am ſchädlichſten für die ländliche Bevölkerung, denn wenn dieſe aus ſolcher<lb/> Unſchuld geriſſen und zu der Reflexion aufgefordert wird, ob nicht ganz ent-<lb/> gegengeſetzte Zuſtände beſtehen könnten, als gegenwärtig, dann iſt für ſie<lb/> kein Halt mehr und keine Ehrfurcht vor dem Rechte.“</note></p><lb/> <p>Das Neue und Verdienſtliche dieſer Anſicht beſteht darin,<lb/> daß ſie erſtens an die Stelle der bis dahin gelehrten äußeren me-<lb/> chaniſchen Produktion des Rechts durch legislative Reflexion<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [25/0039]
I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
nahmsweiſe auf gewohnheitsrechtlichem Wege. Der Geſetzgeber
verſorgt den Staat mit Geſetzen, das Recht iſt alſo im weſent-
lichen nur die Summe der erlaſſenen Geſetze, das Produkt legis-
lativer Willkühr oder Weisheit — dem Volk iſt es etwas von
vornherein Fremdes, äußerlich Angepaßtes oder Aufgedrunge-
nes. So die alte Lehre. Nach der neuern Anſicht iſt das Recht
urſprünglich ein Produkt der unmittelbaren Thätigkeit des Volks-
geiſtes. Das nationale Rechtsgefühl verwirklichte ſich durch die
That ſelbſt und ſtellte ſich äußerlich in der Sitte dar (Gewohn-
heitsrecht). Im Lauf der Zeit tritt als zweite Rechtsquelle die
Geſetzgebung hinzu, nicht gerade ſtets Neues ſchaffend, ſondern
oft nur das Beſtehende formulirend. Neben ihr dauert aber jene
erſte Quelle, das nationale Rechtsgefühl mit ſeiner unmittelbaren
Verwirklichung im Gewohnheitsrecht, als völlig gleichberechtigt
fort, und nicht etwa als eine unvollkommne, bloß tolerirte Art
der Rechtsbildung, ſondern als die eigentlich naturgemäße, nor-
male. Das Gewohnheitsrecht läßt ſich recht eigentlich als das
Schoßkind der neuern Jurisprudenz bezeichnen, und es ſcheint,
als ob man ſich verpflichtet gefühlt hätte, es für die Vernachläſ-
ſigung, die es früher erfahren, durch eine blinde Liebe zu ent-
ſchädigen. 14)
Das Neue und Verdienſtliche dieſer Anſicht beſteht darin,
daß ſie erſtens an die Stelle der bis dahin gelehrten äußeren me-
chaniſchen Produktion des Rechts durch legislative Reflexion
14) Indem ich dieſe Bogen zum Druck abſchicke, bringt mir die Tages-
preſſe eine intereſſante Beſtätigung dieſes Urtheils, nämlich ein Bruchſtück
aus einer Rede Stahls über die Aufhebung der Gemeinde-Ordnung vom
11. März 1850, welches nach der Augsb. Allg. Zeitung 1853 Nr. 15 S. 228
alſo lautet: „Die Form der Codifikation zerſtört oder lockert wenigſtens über-
all die feſten ſtetigen Rechtsverhältniſſe, das feſte ſtetige Rechtsbewußtſein;
ſie zerſtört jedenfalls die Naivität des Rechtsbewußtſeins; ſie iſt darum
am ſchädlichſten für die ländliche Bevölkerung, denn wenn dieſe aus ſolcher
Unſchuld geriſſen und zu der Reflexion aufgefordert wird, ob nicht ganz ent-
gegengeſetzte Zuſtände beſtehen könnten, als gegenwärtig, dann iſt für ſie
kein Halt mehr und keine Ehrfurcht vor dem Rechte.“
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