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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
sondern im Interesse des Staats, aber wer würde ihm die Macht,
soweit sie reicht, darum absprechen? So sollte der altrömische
Vormund das Beste seines Mündels versehen, und es war
dafür gesorgt, daß er es mußte (postulatio suspecti tutoris,
actio rationibus distrahendis,
Infamie 469)) und trotzdem ward
die Tutel als jus ac potestas in capite libero definirt. So
mag also auch das heutige Recht dem Vater eine Gewalt über
die Kinder nur im Interesse ihrer Erziehung anvertrauen und
durch Veranstaltungen verschiedener Art dafür sorgen, daß er
sie nur in diesem Sinne benutze; dadurch ist das Recht des
Vaters zu der römischen patria potestas allerdings in einen
merklichen Gegensatz getreten, allein es läßt sich doch nicht an-
ders definiren, als eine Macht, die sich so und so weit erstreckt,
diesen und jenen Beschränkungen ausgesetzt ist u. s. w.

So viel zur Begründung meiner ersten Thesis. Was nun
die zweite anbetrifft, so geht aus dem bisherigen hervor, daß die
Ausdehnung, die das ältere Recht der subjektiven Macht einge-
räumt hat, für die Hauptfrage selbst gleichgültig ist. Für die
Charakteristik des ältern Rechts dagegen ist dies Moment aller-
dings ein höchst interessantes. Wenn wir den Gedanken der Macht
als das eigentlich privatrechtliche Prinzip haben kennen lernen,
so dürfen wir das ältere Recht den Triumph der abstracten
Privatrechts-Idee nennen. Jener Gedanke hat sich hier einmal
in seiner ganzen Einseitigkeit und Ungebundenheit versuchen,
sich selbst von Seiten seiner praktischen Möglichkeit auf die
Probe stellen wollen, man möchte es die Keckheit und Frische
eines neuen historischen Gedanken nennen. Daß jener Ver-
such gelang, hatte in Voraussetzungen seinen Grund, die sich
in Rom fanden, aber nicht überall wiederholen. Beides, diese
Voraussetzungen wie die praktische Möglichkeit einer so excessi-
ven Verfolgung der Macht, ist später hinweggefallen -- es

469) Die act. tutelae gehört erst dem spätern Recht an, wie an einer
andern Stelle gezeigt werden soll.

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſondern im Intereſſe des Staats, aber wer würde ihm die Macht,
ſoweit ſie reicht, darum abſprechen? So ſollte der altrömiſche
Vormund das Beſte ſeines Mündels verſehen, und es war
dafür geſorgt, daß er es mußte (postulatio suspecti tutoris,
actio rationibus distrahendis,
Infamie 469)) und trotzdem ward
die Tutel als jus ac potestas in capite libero definirt. So
mag alſo auch das heutige Recht dem Vater eine Gewalt über
die Kinder nur im Intereſſe ihrer Erziehung anvertrauen und
durch Veranſtaltungen verſchiedener Art dafür ſorgen, daß er
ſie nur in dieſem Sinne benutze; dadurch iſt das Recht des
Vaters zu der römiſchen patria potestas allerdings in einen
merklichen Gegenſatz getreten, allein es läßt ſich doch nicht an-
ders definiren, als eine Macht, die ſich ſo und ſo weit erſtreckt,
dieſen und jenen Beſchränkungen ausgeſetzt iſt u. ſ. w.

So viel zur Begründung meiner erſten Theſis. Was nun
die zweite anbetrifft, ſo geht aus dem bisherigen hervor, daß die
Ausdehnung, die das ältere Recht der ſubjektiven Macht einge-
räumt hat, für die Hauptfrage ſelbſt gleichgültig iſt. Für die
Charakteriſtik des ältern Rechts dagegen iſt dies Moment aller-
dings ein höchſt intereſſantes. Wenn wir den Gedanken der Macht
als das eigentlich privatrechtliche Prinzip haben kennen lernen,
ſo dürfen wir das ältere Recht den Triumph der abſtracten
Privatrechts-Idee nennen. Jener Gedanke hat ſich hier einmal
in ſeiner ganzen Einſeitigkeit und Ungebundenheit verſuchen,
ſich ſelbſt von Seiten ſeiner praktiſchen Möglichkeit auf die
Probe ſtellen wollen, man möchte es die Keckheit und Friſche
eines neuen hiſtoriſchen Gedanken nennen. Daß jener Ver-
ſuch gelang, hatte in Vorausſetzungen ſeinen Grund, die ſich
in Rom fanden, aber nicht überall wiederholen. Beides, dieſe
Vorausſetzungen wie die praktiſche Möglichkeit einer ſo exceſſi-
ven Verfolgung der Macht, iſt ſpäter hinweggefallen — es

469) Die act. tutelae gehört erſt dem ſpätern Recht an, wie an einer
andern Stelle gezeigt werden ſoll.
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[308/0322] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. ſondern im Intereſſe des Staats, aber wer würde ihm die Macht, ſoweit ſie reicht, darum abſprechen? So ſollte der altrömiſche Vormund das Beſte ſeines Mündels verſehen, und es war dafür geſorgt, daß er es mußte (postulatio suspecti tutoris, actio rationibus distrahendis, Infamie 469)) und trotzdem ward die Tutel als jus ac potestas in capite libero definirt. So mag alſo auch das heutige Recht dem Vater eine Gewalt über die Kinder nur im Intereſſe ihrer Erziehung anvertrauen und durch Veranſtaltungen verſchiedener Art dafür ſorgen, daß er ſie nur in dieſem Sinne benutze; dadurch iſt das Recht des Vaters zu der römiſchen patria potestas allerdings in einen merklichen Gegenſatz getreten, allein es läßt ſich doch nicht an- ders definiren, als eine Macht, die ſich ſo und ſo weit erſtreckt, dieſen und jenen Beſchränkungen ausgeſetzt iſt u. ſ. w. So viel zur Begründung meiner erſten Theſis. Was nun die zweite anbetrifft, ſo geht aus dem bisherigen hervor, daß die Ausdehnung, die das ältere Recht der ſubjektiven Macht einge- räumt hat, für die Hauptfrage ſelbſt gleichgültig iſt. Für die Charakteriſtik des ältern Rechts dagegen iſt dies Moment aller- dings ein höchſt intereſſantes. Wenn wir den Gedanken der Macht als das eigentlich privatrechtliche Prinzip haben kennen lernen, ſo dürfen wir das ältere Recht den Triumph der abſtracten Privatrechts-Idee nennen. Jener Gedanke hat ſich hier einmal in ſeiner ganzen Einſeitigkeit und Ungebundenheit verſuchen, ſich ſelbſt von Seiten ſeiner praktiſchen Möglichkeit auf die Probe ſtellen wollen, man möchte es die Keckheit und Friſche eines neuen hiſtoriſchen Gedanken nennen. Daß jener Ver- ſuch gelang, hatte in Vorausſetzungen ſeinen Grund, die ſich in Rom fanden, aber nicht überall wiederholen. Beides, dieſe Vorausſetzungen wie die praktiſche Möglichkeit einer ſo exceſſi- ven Verfolgung der Macht, iſt ſpäter hinweggefallen — es 469) Die act. tutelae gehört erſt dem ſpätern Recht an, wie an einer andern Stelle gezeigt werden ſoll.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/322>, abgerufen am 28.11.2024.