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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. Allgem. Charakteristik.
kann also ein Recht einen unendlichen Reichthum an Formen,
symbolischen Handlungen u. s. w. haben, und doch diesen prak-
tischen Anforderungen der Plastik nicht entsprechen, wenn näm-
lich der äußerlichen Formen und Darstellungsmittel mehr sind,
als der inneren Unterschiede, der Zeichen mehr, als der Begriffe.
Das innerlich Bedeutungslose erlangt hier eine äußere Anerken-
nung, die wenn auch fürs Leben nicht gerade nachtheilig wirkt,
doch die geistige Erfassung des Rechts erschwert. Das germani-
sche Recht gewährt uns ein Beispiel für diese überwuchernde
Kraft des plastischen Triebes; die Phantasie, die sinnige Natur
des germanischen Charakters hat hier auf Kosten des juristischen
Verstandes sich geltend gemacht.

Der praktische Werth jener Plastik bestimmt sich ferner nicht
nach dem Zuschnitt der Formen. Die Formen sollen weiter
nichts, als den Begriff signalisiren; ob sie dies aber, wie im
germanischen Recht, in poetischer, gemüthvoller Weise thun,
oder, wie im römischen, in prosaischer, höchst nüchterner Weise,
ob sie nebenbei zum symbolischen Ausdruck tiefsinniger Gedan-
ken, inniger Gefühle u. s. w. benutzt werden, oder sich einfach
auf den Dienst beschränken, den sie leisten sollen, äußerliche Kri-
terien innerer Verschiedenheiten zu sein -- dieser Unterschied ist
für die Charakteristik des Volksgeistes bezeichnend, für den ju-
ristischen Werth
jener Plastik aber völlig gleichgültig.

Wenn wir hiernach nun die Plastik des ältern römischen
Rechts beurtheilen, so beschränkt sich dieselbe einfach auf den
angegebenen praktischen Gesichtspunkt. Die Formen, die sie zu
diesem Zweck verwendet, sind der Zahl nach gering 10) und ihrem

10) Wohl zu beachten die Formen, die rechtlich nöthig waren. Das
römische Leben kannte eine Menge Formen, denen jene Bedeutung nicht zu-
kam; um ein Beispiel anzuführen, so waren die Eingehung und Aufhebung
der Ehe späterhin nicht an die Beachtung der Hochzeitsgebräuche, beziehungs-
weise die Zurückgabe und die Zurückforderung der Schlüssel gebunden, unge-
achtet man im Leben diese Form beobachtete. Von manchen juristischen Ge-
bräuchen mag uns übrigens auch keine Kunde erhalten sein.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.
kann alſo ein Recht einen unendlichen Reichthum an Formen,
ſymboliſchen Handlungen u. ſ. w. haben, und doch dieſen prak-
tiſchen Anforderungen der Plaſtik nicht entſprechen, wenn näm-
lich der äußerlichen Formen und Darſtellungsmittel mehr ſind,
als der inneren Unterſchiede, der Zeichen mehr, als der Begriffe.
Das innerlich Bedeutungsloſe erlangt hier eine äußere Anerken-
nung, die wenn auch fürs Leben nicht gerade nachtheilig wirkt,
doch die geiſtige Erfaſſung des Rechts erſchwert. Das germani-
ſche Recht gewährt uns ein Beiſpiel für dieſe überwuchernde
Kraft des plaſtiſchen Triebes; die Phantaſie, die ſinnige Natur
des germaniſchen Charakters hat hier auf Koſten des juriſtiſchen
Verſtandes ſich geltend gemacht.

Der praktiſche Werth jener Plaſtik beſtimmt ſich ferner nicht
nach dem Zuſchnitt der Formen. Die Formen ſollen weiter
nichts, als den Begriff ſignaliſiren; ob ſie dies aber, wie im
germaniſchen Recht, in poetiſcher, gemüthvoller Weiſe thun,
oder, wie im römiſchen, in proſaiſcher, höchſt nüchterner Weiſe,
ob ſie nebenbei zum ſymboliſchen Ausdruck tiefſinniger Gedan-
ken, inniger Gefühle u. ſ. w. benutzt werden, oder ſich einfach
auf den Dienſt beſchränken, den ſie leiſten ſollen, äußerliche Kri-
terien innerer Verſchiedenheiten zu ſein — dieſer Unterſchied iſt
für die Charakteriſtik des Volksgeiſtes bezeichnend, für den ju-
riſtiſchen Werth
jener Plaſtik aber völlig gleichgültig.

Wenn wir hiernach nun die Plaſtik des ältern römiſchen
Rechts beurtheilen, ſo beſchränkt ſich dieſelbe einfach auf den
angegebenen praktiſchen Geſichtspunkt. Die Formen, die ſie zu
dieſem Zweck verwendet, ſind der Zahl nach gering 10) und ihrem

10) Wohl zu beachten die Formen, die rechtlich nöthig waren. Das
römiſche Leben kannte eine Menge Formen, denen jene Bedeutung nicht zu-
kam; um ein Beiſpiel anzuführen, ſo waren die Eingehung und Aufhebung
der Ehe ſpäterhin nicht an die Beachtung der Hochzeitsgebräuche, beziehungs-
weiſe die Zurückgabe und die Zurückforderung der Schlüſſel gebunden, unge-
achtet man im Leben dieſe Form beobachtete. Von manchen juriſtiſchen Ge-
bräuchen mag uns übrigens auch keine Kunde erhalten ſein.
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[16/0030] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik. kann alſo ein Recht einen unendlichen Reichthum an Formen, ſymboliſchen Handlungen u. ſ. w. haben, und doch dieſen prak- tiſchen Anforderungen der Plaſtik nicht entſprechen, wenn näm- lich der äußerlichen Formen und Darſtellungsmittel mehr ſind, als der inneren Unterſchiede, der Zeichen mehr, als der Begriffe. Das innerlich Bedeutungsloſe erlangt hier eine äußere Anerken- nung, die wenn auch fürs Leben nicht gerade nachtheilig wirkt, doch die geiſtige Erfaſſung des Rechts erſchwert. Das germani- ſche Recht gewährt uns ein Beiſpiel für dieſe überwuchernde Kraft des plaſtiſchen Triebes; die Phantaſie, die ſinnige Natur des germaniſchen Charakters hat hier auf Koſten des juriſtiſchen Verſtandes ſich geltend gemacht. Der praktiſche Werth jener Plaſtik beſtimmt ſich ferner nicht nach dem Zuſchnitt der Formen. Die Formen ſollen weiter nichts, als den Begriff ſignaliſiren; ob ſie dies aber, wie im germaniſchen Recht, in poetiſcher, gemüthvoller Weiſe thun, oder, wie im römiſchen, in proſaiſcher, höchſt nüchterner Weiſe, ob ſie nebenbei zum ſymboliſchen Ausdruck tiefſinniger Gedan- ken, inniger Gefühle u. ſ. w. benutzt werden, oder ſich einfach auf den Dienſt beſchränken, den ſie leiſten ſollen, äußerliche Kri- terien innerer Verſchiedenheiten zu ſein — dieſer Unterſchied iſt für die Charakteriſtik des Volksgeiſtes bezeichnend, für den ju- riſtiſchen Werth jener Plaſtik aber völlig gleichgültig. Wenn wir hiernach nun die Plaſtik des ältern römiſchen Rechts beurtheilen, ſo beſchränkt ſich dieſelbe einfach auf den angegebenen praktiſchen Geſichtspunkt. Die Formen, die ſie zu dieſem Zweck verwendet, ſind der Zahl nach gering 10) und ihrem 10) Wohl zu beachten die Formen, die rechtlich nöthig waren. Das römiſche Leben kannte eine Menge Formen, denen jene Bedeutung nicht zu- kam; um ein Beiſpiel anzuführen, ſo waren die Eingehung und Aufhebung der Ehe ſpäterhin nicht an die Beachtung der Hochzeitsgebräuche, beziehungs- weiſe die Zurückgabe und die Zurückforderung der Schlüſſel gebunden, unge- achtet man im Leben dieſe Form beobachtete. Von manchen juriſtiſchen Ge- bräuchen mag uns übrigens auch keine Kunde erhalten ſein.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/30>, abgerufen am 23.11.2024.