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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
verstehen, die wir oben S. 167 der dort geschilderten äußern
Abgeschlossenheit desselben entgegensetzten. Erst durch sie wird
der Charakter des Hauses als einer Stätte des Friedens und
eines unantastbaren Zufluchtsortes vollständig verwirklicht.

Diese Behandlungsweise, bei der die hausherrliche Gewalt
dem Recht den Zutritt zur Familie versperrt, hat etwas unge-
mein Schönes und Anziehendes, vorausgesetzt, daß der ächte
sittliche Geist die an sich todten Formen beseelt; ob dies im
ältern Rom der Fall war, wird sofort untersucht werden. Unser
heutiges und schon das spätere römische Recht hat jene unbe-
schränkte hausherrliche Gewalt aufgegeben oder, was dasselbe
sagen will, es ist in das Innere der Familie eingedrungen. Ich
will die relative Berechtigung dieser Aenderung nicht verkennen,
aber wir mögen uns andererseits nur klar werden, daß wir
nicht so gar hohe Ursache haben uns mit derselben zu brüsten.
Einem Römer wäre unser heutiges System nicht minder an-
stößig gewesen, als uns das seinige. Daß von der Geburt
an das Kind dem Vater mit getrenntem Vermögen gegenüber
stehen kann, das Kind reich, der Vater arm; daß ersteres wegen
beliebiger Gründe gegen ihn, wie gegen jeden Dritten prozessi-
ren kann; 301) daß der Vater kein rechtliches Mittel mehr in
Händen hat, den selbständig gewordenen pflicht- und ehrverges-
senen Sohn zur Zucht und Ordnung zu zwingen; daß der
Richter dem Mann zu Hülfe kommen muß, um die Frau zur
Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten u. s. w., das alles wäre
einem Römer als eine unnatürliche Rechtssatzung erschienen.

301) Eine Klage des emancipirten Kindes war auch in Rom mög-
lich, und die Consequenz hätte erfordert, sie unbeschränkt zuzulassen, allein
das römische Pietäts- und Schicklichkeitsgefühl war doch mächtiger, als selbst
die römische Consequenz. Die Klagen gegen die Eltern bedurften erst der
ausdrücklichen Erlaubniß des Prätors L. 4 §. 1--3, L. 6--8 pr. de in jus
voc.
(2. 4) und wo sie etwas für das Gefühl Verletzendes enthielten, ward
ihnen dieselbe gewiß nicht zu Theil. Den Römern erschien es erträglicher,
daß die Kinder von ihren Eltern Unrecht erduldeten, als daß letztere ohne die
dringendsten Gründe von ihnen vor Gericht gezogen würden.

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
verſtehen, die wir oben S. 167 der dort geſchilderten äußern
Abgeſchloſſenheit deſſelben entgegenſetzten. Erſt durch ſie wird
der Charakter des Hauſes als einer Stätte des Friedens und
eines unantaſtbaren Zufluchtsortes vollſtändig verwirklicht.

Dieſe Behandlungsweiſe, bei der die hausherrliche Gewalt
dem Recht den Zutritt zur Familie verſperrt, hat etwas unge-
mein Schönes und Anziehendes, vorausgeſetzt, daß der ächte
ſittliche Geiſt die an ſich todten Formen beſeelt; ob dies im
ältern Rom der Fall war, wird ſofort unterſucht werden. Unſer
heutiges und ſchon das ſpätere römiſche Recht hat jene unbe-
ſchränkte hausherrliche Gewalt aufgegeben oder, was daſſelbe
ſagen will, es iſt in das Innere der Familie eingedrungen. Ich
will die relative Berechtigung dieſer Aenderung nicht verkennen,
aber wir mögen uns andererſeits nur klar werden, daß wir
nicht ſo gar hohe Urſache haben uns mit derſelben zu brüſten.
Einem Römer wäre unſer heutiges Syſtem nicht minder an-
ſtößig geweſen, als uns das ſeinige. Daß von der Geburt
an das Kind dem Vater mit getrenntem Vermögen gegenüber
ſtehen kann, das Kind reich, der Vater arm; daß erſteres wegen
beliebiger Gründe gegen ihn, wie gegen jeden Dritten prozeſſi-
ren kann; 301) daß der Vater kein rechtliches Mittel mehr in
Händen hat, den ſelbſtändig gewordenen pflicht- und ehrvergeſ-
ſenen Sohn zur Zucht und Ordnung zu zwingen; daß der
Richter dem Mann zu Hülfe kommen muß, um die Frau zur
Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten u. ſ. w., das alles wäre
einem Römer als eine unnatürliche Rechtsſatzung erſchienen.

301) Eine Klage des emancipirten Kindes war auch in Rom mög-
lich, und die Conſequenz hätte erfordert, ſie unbeſchränkt zuzulaſſen, allein
das römiſche Pietäts- und Schicklichkeitsgefühl war doch mächtiger, als ſelbſt
die römiſche Conſequenz. Die Klagen gegen die Eltern bedurften erſt der
ausdrücklichen Erlaubniß des Prätors L. 4 §. 1—3, L. 6—8 pr. de in jus
voc.
(2. 4) und wo ſie etwas für das Gefühl Verletzendes enthielten, ward
ihnen dieſelbe gewiß nicht zu Theil. Den Römern erſchien es erträglicher,
daß die Kinder von ihren Eltern Unrecht erduldeten, als daß letztere ohne die
dringendſten Gründe von ihnen vor Gericht gezogen würden.
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[204/0218] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. verſtehen, die wir oben S. 167 der dort geſchilderten äußern Abgeſchloſſenheit deſſelben entgegenſetzten. Erſt durch ſie wird der Charakter des Hauſes als einer Stätte des Friedens und eines unantaſtbaren Zufluchtsortes vollſtändig verwirklicht. Dieſe Behandlungsweiſe, bei der die hausherrliche Gewalt dem Recht den Zutritt zur Familie verſperrt, hat etwas unge- mein Schönes und Anziehendes, vorausgeſetzt, daß der ächte ſittliche Geiſt die an ſich todten Formen beſeelt; ob dies im ältern Rom der Fall war, wird ſofort unterſucht werden. Unſer heutiges und ſchon das ſpätere römiſche Recht hat jene unbe- ſchränkte hausherrliche Gewalt aufgegeben oder, was daſſelbe ſagen will, es iſt in das Innere der Familie eingedrungen. Ich will die relative Berechtigung dieſer Aenderung nicht verkennen, aber wir mögen uns andererſeits nur klar werden, daß wir nicht ſo gar hohe Urſache haben uns mit derſelben zu brüſten. Einem Römer wäre unſer heutiges Syſtem nicht minder an- ſtößig geweſen, als uns das ſeinige. Daß von der Geburt an das Kind dem Vater mit getrenntem Vermögen gegenüber ſtehen kann, das Kind reich, der Vater arm; daß erſteres wegen beliebiger Gründe gegen ihn, wie gegen jeden Dritten prozeſſi- ren kann; 301) daß der Vater kein rechtliches Mittel mehr in Händen hat, den ſelbſtändig gewordenen pflicht- und ehrvergeſ- ſenen Sohn zur Zucht und Ordnung zu zwingen; daß der Richter dem Mann zu Hülfe kommen muß, um die Frau zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten u. ſ. w., das alles wäre einem Römer als eine unnatürliche Rechtsſatzung erſchienen. 301) Eine Klage des emancipirten Kindes war auch in Rom mög- lich, und die Conſequenz hätte erfordert, ſie unbeſchränkt zuzulaſſen, allein das römiſche Pietäts- und Schicklichkeitsgefühl war doch mächtiger, als ſelbſt die römiſche Conſequenz. Die Klagen gegen die Eltern bedurften erſt der ausdrücklichen Erlaubniß des Prätors L. 4 §. 1—3, L. 6—8 pr. de in jus voc. (2. 4) und wo ſie etwas für das Gefühl Verletzendes enthielten, ward ihnen dieſelbe gewiß nicht zu Theil. Den Römern erſchien es erträglicher, daß die Kinder von ihren Eltern Unrecht erduldeten, als daß letztere ohne die dringendſten Gründe von ihnen vor Gericht gezogen würden.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/218>, abgerufen am 24.11.2024.