Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
dern jene Gewalt soll den Hausherrn in Stand setzen, nach eig-
ner Einsicht das Richtige und den individuellen Verhältnissen
Angemessene ungehindert zu wählen. Ihm die potestas zuzu-
erkennen hieß nichts, als das römische Haus zu dem zu erhe-
ben, wie wir es eben bezeichnet haben -- dem freien Heilig-
thum der Liebe. Die potestas gibt ihm das rechtliche Mittel,
um diese Bestimmung des Hauses zu verwirklichen, den Un-
frieden, möge er von draußen anpochen oder im Innern laut
werden, fern zu halten oder zu ersticken. Sie enthält negativ
ausgedrückt den Satz: "kein Dritter hat ein Recht, sich in un-
sere Angelegenheiten zu mischen," und sodann: "Zwistigkeiten
im Innern der Familie sollen rechtlich sich nicht über das rö-
mische Haus hinaus erstrecken." Eine Klage zwischen den
Hausgenossen, sei es des Herrn gegen die Seinen 298) oder der
letztern gegen ihn oder der letztern untereinander ist ein juristi-
sches Unding. Es ist Sache des Hausherrn, alle diese Strei-
tigkeiten zu schlichten; kann er es nicht, so trägt er selbst die
Schuld und den Schaden, denn hätte er von Anfang an die
rechte Zucht in seinem Hause gehandhabt, so würde es ihm an
der nöthigen Autorität nicht gefehlt haben. Diese Autorität ist
von dem Uebergewicht der physischen Kraft völlig unabhän-
gig 299) (es ist nicht das Moment der physischen Kraft, die
"Stärke des Arms," auf das jene Gewalt sich gründet, sonst
müßte sie ja auch mit derselben untergehn), sondern sie ist mo-
ralischer Art und durch die Volksansicht von vornherein in dem

298) L. 16 de furt. (47. 2.) Ne cum filio familias pater furti agere
possit, non juris constitutio, sed natura rei impedimento est, quod non
magis cum his, quos in potestate habemus, quam no-
biscum ipsi agere possumus
.
299) Cic. de senect. 11. Quatuor robustos filios, quinque filias, tan-
tam domum, tantas clientelas Appius regebat et senex et caecus
... tenebat non modo auctoritatem, sed etiam imperium in suos, me-
tuebant servi, verebantur liberi, carum omnes habebant; vigebat illa in
domo patrius mos et disciplina.

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
dern jene Gewalt ſoll den Hausherrn in Stand ſetzen, nach eig-
ner Einſicht das Richtige und den individuellen Verhältniſſen
Angemeſſene ungehindert zu wählen. Ihm die potestas zuzu-
erkennen hieß nichts, als das römiſche Haus zu dem zu erhe-
ben, wie wir es eben bezeichnet haben — dem freien Heilig-
thum der Liebe. Die potestas gibt ihm das rechtliche Mittel,
um dieſe Beſtimmung des Hauſes zu verwirklichen, den Un-
frieden, möge er von draußen anpochen oder im Innern laut
werden, fern zu halten oder zu erſticken. Sie enthält negativ
ausgedrückt den Satz: „kein Dritter hat ein Recht, ſich in un-
ſere Angelegenheiten zu miſchen,“ und ſodann: „Zwiſtigkeiten
im Innern der Familie ſollen rechtlich ſich nicht über das rö-
miſche Haus hinaus erſtrecken.“ Eine Klage zwiſchen den
Hausgenoſſen, ſei es des Herrn gegen die Seinen 298) oder der
letztern gegen ihn oder der letztern untereinander iſt ein juriſti-
ſches Unding. Es iſt Sache des Hausherrn, alle dieſe Strei-
tigkeiten zu ſchlichten; kann er es nicht, ſo trägt er ſelbſt die
Schuld und den Schaden, denn hätte er von Anfang an die
rechte Zucht in ſeinem Hauſe gehandhabt, ſo würde es ihm an
der nöthigen Autorität nicht gefehlt haben. Dieſe Autorität iſt
von dem Uebergewicht der phyſiſchen Kraft völlig unabhän-
gig 299) (es iſt nicht das Moment der phyſiſchen Kraft, die
„Stärke des Arms,“ auf das jene Gewalt ſich gründet, ſonſt
müßte ſie ja auch mit derſelben untergehn), ſondern ſie iſt mo-
raliſcher Art und durch die Volksanſicht von vornherein in dem

298) L. 16 de furt. (47. 2.) Ne cum filio familias pater furti agere
possit, non juris constitutio, sed natura rei impedimento est, quod non
magis cum his, quos in potestate habemus, quam no-
biscum ipsi agere possumus
.
299) Cic. de senect. 11. Quatuor robustos filios, quinque filias, tan-
tam domum, tantas clientelas Appius regebat et senex et caecus
… tenebat non modo auctoritatem, sed etiam imperium in suos, me-
tuebant servi, verebantur liberi, carum omnes habebant; vigebat illa in
domo patrius mos et disciplina.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0216" n="202"/><fw place="top" type="header">Zweit. Buch. Er&#x017F;t. Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Freiheitstrieb.</fw><lb/>
dern jene Gewalt &#x017F;oll den Hausherrn in Stand &#x017F;etzen, nach eig-<lb/>
ner Ein&#x017F;icht das Richtige und den individuellen Verhältni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Angeme&#x017F;&#x017F;ene ungehindert zu wählen. Ihm die <hi rendition="#aq">potestas</hi> zuzu-<lb/>
erkennen hieß nichts, als das römi&#x017F;che Haus zu dem zu erhe-<lb/>
ben, wie wir es eben bezeichnet haben &#x2014; dem freien Heilig-<lb/>
thum der Liebe. Die <hi rendition="#aq">potestas</hi> gibt ihm das rechtliche Mittel,<lb/>
um die&#x017F;e Be&#x017F;timmung des Hau&#x017F;es zu verwirklichen, den Un-<lb/>
frieden, möge er von draußen anpochen oder im Innern laut<lb/>
werden, fern zu halten oder zu er&#x017F;ticken. Sie enthält negativ<lb/>
ausgedrückt den Satz: &#x201E;kein Dritter hat ein <hi rendition="#g">Recht</hi>, &#x017F;ich in un-<lb/>
&#x017F;ere Angelegenheiten zu mi&#x017F;chen,&#x201C; und &#x017F;odann: &#x201E;Zwi&#x017F;tigkeiten<lb/>
im Innern der Familie &#x017F;ollen <hi rendition="#g">rechtlich</hi> &#x017F;ich nicht über das rö-<lb/>
mi&#x017F;che Haus hinaus er&#x017F;trecken.&#x201C; Eine <hi rendition="#g">Klage</hi> zwi&#x017F;chen den<lb/>
Hausgeno&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ei es des Herrn gegen die Seinen <note place="foot" n="298)"><hi rendition="#aq">L. 16 de furt. (47. 2.) Ne cum filio familias pater furti agere<lb/>
possit, non juris constitutio, sed natura rei impedimento est, quod <hi rendition="#g">non<lb/>
magis cum his, quos in potestate habemus, quam no-<lb/>
biscum ipsi agere possumus</hi>.</hi></note> oder der<lb/>
letztern gegen ihn oder der letztern untereinander i&#x017F;t ein juri&#x017F;ti-<lb/>
&#x017F;ches Unding. Es i&#x017F;t Sache des Hausherrn, alle die&#x017F;e Strei-<lb/>
tigkeiten zu &#x017F;chlichten; kann er es nicht, &#x017F;o trägt er &#x017F;elb&#x017F;t die<lb/>
Schuld und den Schaden, denn hätte er von Anfang an die<lb/>
rechte Zucht in &#x017F;einem Hau&#x017F;e gehandhabt, &#x017F;o würde es ihm an<lb/>
der nöthigen Autorität nicht gefehlt haben. Die&#x017F;e Autorität i&#x017F;t<lb/>
von dem Uebergewicht der phy&#x017F;i&#x017F;chen Kraft völlig unabhän-<lb/>
gig <note place="foot" n="299)"><hi rendition="#aq">Cic. de senect. 11. Quatuor robustos filios, quinque filias, tan-<lb/>
tam domum, tantas clientelas Appius regebat <hi rendition="#g">et senex et caecus</hi><lb/>
&#x2026; tenebat non modo auctoritatem, sed etiam imperium in suos, me-<lb/>
tuebant servi, verebantur liberi, carum omnes habebant; vigebat illa in<lb/>
domo patrius mos et disciplina.</hi></note> (es i&#x017F;t nicht das Moment der phy&#x017F;i&#x017F;chen Kraft, die<lb/>
&#x201E;Stärke des Arms,&#x201C; auf das jene Gewalt &#x017F;ich gründet, &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
müßte &#x017F;ie ja auch mit der&#x017F;elben untergehn), &#x017F;ondern &#x017F;ie i&#x017F;t mo-<lb/>
rali&#x017F;cher Art und durch die Volksan&#x017F;icht von vornherein in dem<lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[202/0216] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. dern jene Gewalt ſoll den Hausherrn in Stand ſetzen, nach eig- ner Einſicht das Richtige und den individuellen Verhältniſſen Angemeſſene ungehindert zu wählen. Ihm die potestas zuzu- erkennen hieß nichts, als das römiſche Haus zu dem zu erhe- ben, wie wir es eben bezeichnet haben — dem freien Heilig- thum der Liebe. Die potestas gibt ihm das rechtliche Mittel, um dieſe Beſtimmung des Hauſes zu verwirklichen, den Un- frieden, möge er von draußen anpochen oder im Innern laut werden, fern zu halten oder zu erſticken. Sie enthält negativ ausgedrückt den Satz: „kein Dritter hat ein Recht, ſich in un- ſere Angelegenheiten zu miſchen,“ und ſodann: „Zwiſtigkeiten im Innern der Familie ſollen rechtlich ſich nicht über das rö- miſche Haus hinaus erſtrecken.“ Eine Klage zwiſchen den Hausgenoſſen, ſei es des Herrn gegen die Seinen 298) oder der letztern gegen ihn oder der letztern untereinander iſt ein juriſti- ſches Unding. Es iſt Sache des Hausherrn, alle dieſe Strei- tigkeiten zu ſchlichten; kann er es nicht, ſo trägt er ſelbſt die Schuld und den Schaden, denn hätte er von Anfang an die rechte Zucht in ſeinem Hauſe gehandhabt, ſo würde es ihm an der nöthigen Autorität nicht gefehlt haben. Dieſe Autorität iſt von dem Uebergewicht der phyſiſchen Kraft völlig unabhän- gig 299) (es iſt nicht das Moment der phyſiſchen Kraft, die „Stärke des Arms,“ auf das jene Gewalt ſich gründet, ſonſt müßte ſie ja auch mit derſelben untergehn), ſondern ſie iſt mo- raliſcher Art und durch die Volksanſicht von vornherein in dem 298) L. 16 de furt. (47. 2.) Ne cum filio familias pater furti agere possit, non juris constitutio, sed natura rei impedimento est, quod non magis cum his, quos in potestate habemus, quam no- biscum ipsi agere possumus. 299) Cic. de senect. 11. Quatuor robustos filios, quinque filias, tan- tam domum, tantas clientelas Appius regebat et senex et caecus … tenebat non modo auctoritatem, sed etiam imperium in suos, me- tuebant servi, verebantur liberi, carum omnes habebant; vigebat illa in domo patrius mos et disciplina.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/216
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/216>, abgerufen am 24.11.2024.